ChessBase-Gründer Frederic Friedel

Im Oktober 2022 interviewte ich Frederic Friedel für den Schachgeflüster Podcast. Im November 2022 erschien dann eine bebilderte Zusammenfassung des Interviews im Schachmagazin64.

Hier kommt der Interviewtext:


Ich glaube, das Internet wurde für Schach erfunden”

Er ist der Gründer von ChessBase. Helmut Pfleger nannte ihn einen Menschenfänger. Frederic Friedel kannte elf von 16 Weltmeistern persönlich und hat mit vielen von ihnen unglaubliche Geschichten erlebt. 

Angetrieben von Garri Kasparov, gründete Frederic Friedel gemeinsam mit Matthias Wüllenweber die Firma ChessBase. Heute ist er 77 Jahre alt, aber in der Schachwelt gefragter denn je – ob als Computerschachexperte, Buchautor oder einfach als Ratgeber. Michael Busse vom Schachgeflüster Podcast sprach mit Friedel über einen bunten Strauß an Themen: vom aktuellen Betrugsskandal über seine Leidenschaft für Rätsel bis hin zu seinen Begegnungen mit den Weltmeistern. 

Herr Friedel, momentan dominiert das Thema Cheating die Diskussionen in der Schachwelt. Wie ist Ihre persönliche Einschätzung dazu? 

In Argentinien gab es 2005 bei der Weltmeisterschaft einen Cheating-Verdacht. Damals wurde mir klar: Dieses Problem wird immer schlimmer. Ich habe der FIDE vorgeschlagen, Übertragungen um 15 Minuten zu verzögern, damit niemand von außen Züge an den Spieler geben kann. Jetzt bin ich erfreut, dass es endlich kommt. Aber es müssen natürlich viele weitere Maßnahmen ergriffen werden. 

Halten Sie es technisch für möglich, Online-Cheating zuverlässig aufzudecken? 

Ich glaube, ich könnte es so einrichten, dass chess.com und unser eigener Algorithmus mich nicht erwischen würden, wenn ich schummeln würde. Ich kann nicht offen darüber sprechen, wie unsere Technik funktioniert. Die Gewichtung verschiedenartiger Züge spielt eine Rolle. Bei ruhigen Zügen wird der Eingriff von außen offensichtlicher, als wenn man eine Figur zurückschlägt. Aber ich will niemandem eine Anweisung zum Cheating geben. 

Eine andere aktuelle Diskussion in der Schachwelt ist der bevorstehende Kauf der PlayMagnus Group durch chess.com. Wie will sich ChessBase gegen diese Marktmacht der Amerikaner behaupten? 

Wir haben unsere kleine Nische. Nicht nur Magnus Carlsen benutzt ChessBase, sondern jeder, der wirklich besser werden will. Wir wollen entwickeln, weiter kommen mit neuen Ideen, aber wir wollen nicht die Welt erobern – zumindest nicht finanziell. Wir haben eine Art Familienfirma, in der sich alle gegenseitig mögen. Und wir haben mit diesem kleinen Unternehmen etwas geschafft, nämlich die Schachwelt gründlich zu verändern. 

Welche Rolle nehmen Sie denn heute bei ChessBase ein? 

Seit zwölf Jahren versuche ich, in den Ruhestand zu gehen. Aber immer findet jemand Sachen, die „nur Frederic kann“. Ich werde auch ständig von vielen Leuten kontaktiert. Gestern habe ich zum Beispiel lange mit Wesley So gesprochen, der mich gefragt hat, wie ich über das Thema Cheating denke. 

Das hält ja auch jung. 

Ich hoffe. 

Die Gründungsgeschichte von ChessBase ist ja schon legendär. Wie lernten Sie eigentlich Garri Kasparov kennen? 

Ich hatte damals erfahren, dass ich den gleichen Computer hatte wie Garri Kasparov, und habe ihm eine Diskette mit ein paar Spielen geschickt. Einige Monate später wurde er vom Spiegel zu einem Wettkampf gegen Robert Hübner nach Hamburg eingeladen. An seinem freien Tag besuchte Kasparov mich dann zuhause. 

Er klingelte einfach an der Tür? 

Ja. Er wollte alles wissen, was ich über Computer weiß. Ich zeigte ihm, was ein Computer kann, und er sagte mir, was sie für Schach tun sollten. Wir entwickelten zusammen einen Plan und suchten dazu einen Programmierer. Irgendwann drückte mir ein junger Mann eine Diskette in die Hand. Zuhause öffnete ich sie, und – meine Güte, es war eine kleine Datenbank! 

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Die Sie dann auch Kasparov zeigten. 

Ja. Der junge Mann – es war natürlich Matthias Wüllenweber – kam per Anhalter nach Basel, und wir zeigten Garri dort in meinem Hotelzimmer den Prototyp. Garri saß auf meinem Bett und sagte kein Wort. Irgendwann warf er sich nach hinten, blieb eine Weile liegen und sprang dann plötzlich auf. Er rief: „This is the greatest development in chess learning since Gutenberg!” Danach hat er uns immer weiter angetrieben und unterstützt. 

Sie sagten an anderer Stelle mal, Kasparov habe zur Demokratisierung des Schachs beigetragen. Warum nutzte er sein Wissen über Schach nicht nur für sich selbst? 

Zur damaligen Zeit hatten nur wenige Großmeister Zugang zu dem wichtigsten Schachwissen der Welt, das u.A. in einer großen Karthotek in Moskau gesammelt wurde. Kasparov war der Meinung: Das soll jeder haben. Ich rechne ihm hoch an, dass er uns geholfen hat, Schach zu demokratisieren. Heute ist es so: das Werkzeug, das dem Schachweltmeister zur Verfügung steht, kann jeder Anfänger für ein paar hundert Euro erwerben. 

Hat die zunehmende Prägung des Schachs durch Schachcomputer nicht auch eine Kehrseite? Der britische IM Ali Mortazavi bezeichnet Sie gerne als “the man who killed chess.”

Mortazavi ist ein alter Freund. Er hat das natürlich mit Humor gemeint. Heutzutage ist es eben so, dass schon kleine Kinder einem starken IM das Leben schwer machen können, weil sie zuhause mit Hilfe des Computers studiert haben. Schach ist übrigens die einzige Sportart, die nicht darunter leidet, wenn man nicht persönlich dabei ist. Ich glaube, das Internet wurde für Schach erfunden. 

1991 haben Sie eine Engine zur Verfügung gestellt, mit der man erstmals Schachstellungen analysieren könnte, nämlich Fritz. Kramnik hat sich 1996 noch über Fritz 4 lustig gemacht. Mittlerweile hat Fritz vermutlich 1.000 Elo mehr als Kramnik. 

Am Anfang war Fritz wie ein niedliches Spielzeug. Aber er wurde Jahr für Jahr immer besser. Irgendwann zeigte ich Garri in Köln die neueste Version. Zum ersten Mal in seinem Leben verlor er Partien gegen einen Computer, auch wenn es nur Blitzpartien im Hotelzimmer waren. Er war erschüttert. Diese Phase, wo Computer mit den besten Schachspielern konkurrieren konnten, war sehr spannend. 

Wie stark werden Schachcomputer in Zukunft sein? Gibt es eine Obergrenze? 

Ja. Dazu muss man sich anschauen, wie Google die neuronalen Netze programmiert hat. Sie haben das Programm AlphaZero vier Stunden lang gegen sich selber spielen und daraus Schlüsse ziehen lassen. Alpha Zero wurde stärker als die Konkurrenz. Ich kenne Demis Hassabis, den Initiator bei Google, und fragte ihn: warum habt Ihr nicht länger rechnen lassen? Die Antwort lautete: Die Lernkurve steigt zwar rasant an, flacht aber nach oben ab. Wir haben selber ein neuronales Programm entwickelt und nannten es Fat Fritz. Dort habe wir das gleiche gemerkt: Nach 3600 Elo wird es nur sehr langsam stärker. Ich sage voraus, dass kein Programm jemals stärker als 4.000 Elo wird. 

Das ist dann schon perfektes Spiel? 

Nein, es gibt einen anderen Grund. Weil Schach, wie ich glaube, Remis ist. Über 90 Prozent aller Stellungen, die vorkommen können, sind remis. Das kennen wir schon von Endspieldatenbanken. Wir sehen dort verschiedene Endspiele, die immer Remis sind, egal wie stark du bist. Ich glaube, dass ein Programm, das 4.000 Elo hat, immer einen Weg in eine Remisstellung finden wird. 

Lassen Sie uns einen Themawechsel machen und über Sie selbst reden. Sie wurden in Indien geboren, und Ihr Vater war Experte für Giftschlangen. Wie kam es denn zu dieser Berufswahl? 

Mein Vater, in Bayern geboren, war ein Feinmechaniker, der besonders genaue Uhren entwickelte. Von einer Schweizer Firma wurde er beauftragt, asiatische Schiffe mit Chronometern auszustatten. Als der 1. Weltkrieg ausbrach, wurde er in ein Internierungslager gebracht. Die Soldaten dort wurden ständig von Schlangen gebissen. Als ein Schlangenexperte zu Rate gezogen wurde und einen Helfer suchte, sagten die Soldaten: Wir wollen mit den Dingern nichts zu tun haben. Aber es gibt einen verrückten Deutschen, der mit Schlangen spielt. Die beiden haben dann die ersten Schlangen-Seren entwickelt. Die ersten Jahre meines Lebens habe ich im Dschungel mit wilden Tieren verbracht. Da ist Mogli nichts dagegen. 

Durch Ihre Herkunft erklärt sich wohl auch Ihre besondere Bindung zu Indien. Was momentan in Sachen Schach in Indien abläuft, ist unglaublich. 

Ja. Ich sage voraus, dass in zehn Jahren von den Top100 mindestens 25 Prozent Inder sein werden. Und von den TOP 10 werden es 30 Prozent sein. Ich kenne fünf, die gute Chancen dazu haben. Über Skype korrespondiere ich laufend mit ihnen und bin dabei, sie besonders zu trainieren. 

Sie trainieren die indischen Supertalente? 

Ja, indem sie von mir Zugang zu ganz besonderen Softwareentwicklungen bekommen. 

Interview mit Frederic Friedel
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Was für Entwicklungen sind das? 

Das sind Prototypen einer Software auf Basis von neuronalen Netzen. Damit kann man Ideen für bestimmte Stellungen entwickeln, die man mit anderen Programmen nicht bekommt. Nihal Sarin zum Beispiel war hier bei mir zuhause. Er war von den Möglichkeiten der Software zutiefst beeindruckt. Ebenso Gukesh. Ein anderer Spieler aus den Top 5 der Welt erzählte mir, dass er nur noch dieses Programm nutzt – nicht einmal mehr Stockfish, Komodo oder Fritz. 

Haben Sie Vincent Keymer auch schon an Ihre Zaubersoftware rangelassen? 

Das nicht. Aber ich kenne ihn natürlich. Als Zehnjährigen wollte ich ihn mit Kasparov bekannt machen und lud ihn deshalb nach Berlin ein, wo Garri gerade spielte. Ich wollte, dass er mit Vincent arbeitet und mir ein Urteil gibt. Einmal im Jahr darf ich Garri jemanden so zur Prüfung vorführen. Garri nahm Vincent mit auf sein Hotelzimmer. Nach zwei Stunden war seine Meinung: der Junge ist sehr stark, er hat ein ungewöhnliches Schachverständnis. 

Wen haben Sie Kasparov denn noch alles vorgestellt? 

Etliche, unter anderem auch Magnus Carlsen. Ich habe immer von Magnus geschwärmt. Garri hatte zwar schon ein paar Schnellpartien mit ihm gespielt, aber kannte ihn noch nicht richtig. Irgendwann rief er mich an und sagte: „Weißt du, Frederic – ich glaube, du hast recht. Er wird ganz nach oben gehen.” Garri hatte seinen eigenen Kampfgeist in Magnus entdeckt. Und dann fingen sie an, miteinander zu arbeiten. 

Zu Ihrer Persönlichkeit gehört nicht nur, dass Sie Menschen zusammenbringen, sondern auch, dass Sie gerne Rätselfragen stellen. Helmut Pfleger hat Sie in der Zeit als Menschenfänger bezeichnet, und ich glaube, ich habe Sie ein bisschen durchschaut: Sie binden oft die Menschen an sich, indem Sie ihnen Rätselaufgaben geben. Ist das richtig beobachtet? 

Besonders gern mache ich das bei Kindern. Dazu habe ich auch gerade ein Buch bei Kösel/Penguin eingereicht. Durch logische Rätsel werden Kinder blitzgescheit. Und es gibt noch einen Effekt: nachdem ich das ein paar Monate mit meinen Enkelkindern gemacht habe, haben sie angefangen, eine deutlich größere Zuneigung zu mir zu zeigen. Ich glaube, das hat mit Dopamin zu tun…

Im Vorgespräch haben Sie mich mit der Aussage schockiert, dass Sie 12-14 Stunden am Tag arbeiten. Woran sitzen Sie noch abgesehen von dem Logikbuch?

Gerade ist das Buch „Schachgeschichten” herausgekommen, das ich gemeinsam mit Prof. Christian Hesse geschrieben habe. Der Teil, den ich beigesteuert habe, besteht in den Begegnungen mit den Weltmeistern. Seit Euwe habe ich alle Weltmeister kennengelernt und mich mit ihnen befreundet. Ein weiteres Buchprojekt heißt “A century in India” und soll von meinem Vater und meiner Jugend im indischen Dschungel handeln. 

A propos Begegnungen mit Weltmeistern. Sie haben eine Zeitlang Telefonate mit Bobby Fischer geführt und davon Aufzeichnungen gemacht. Wann werden diese veröffentlicht? 

Das geht leider nicht. Das wäre illegal. Fischer ließ mich über seinen isländischen Freund Gardar Sverrisson kontaktieren, weil er einen Wettkampf mit Anand im Chess960 veranstalten wollte. Er nannte es damals „new chess”. Später rief Fischer mich sogar an. Wir haben bestimmt zehn bis fünfzehn Mal telefoniert, immer über eine Stunde lang. Ich kam mit ihm ganz gut aus, habe ihn sogar gehänselt. Einmal habe ich ihm gesagt: Fischer Random hast du doch nur erfunden, weil du dich in der Eröffnungstheorie nicht mehr auskennst. Ich konnte ihn aufziehen, ohne dass er es mir übel nahm.

Hat er mit Ihnen auch Computerpartien gespielt? 

Das nicht. Aber er wollte mir ständig beweisen, dass die Partien zwischen Kasparov und Karpov abgesprochen waren. Er zwang mich, sie mit ihm  nachzuspielen. Mit Hilfe von Fritz konnte ich mitreden, ja ihn sogar manchmal korrigieren. Leider wurde er sehr krank. Gardars und seine Frau haben versucht, ihn zu überreden, sich im Krankenhaus helfen zu lassen. Aber er wollte nicht.  

Ich habe gehört, Sie kennen auch Hou Yifan sehr gut?  

Ja. Als ich sie das erste Mal in Wijk aan Zee als 13-jährige getroffen habe, habe ich ihr gesagt: Du musst Englisch lernen. Zehn Monate später, am Weihnachtstag, bekam ich einen Brief von ihr: “Lieber Frederic, ich bin deinem Rat gefolgt und nehme Englischunterricht. Ich kann jetzt Englisch sprechen.” Ich habe fast geheult. Jahre später fragte sie mich, was sie mit ihrem Leben anfangen solle. Hier an meinem Schreibtisch schrieb sie Bewerbungen für ein Stipendium in Oxford. Das klappte, und sie wurde die jüngste Professorin in der Geschichte von China. Ich liebe sie sehr. 

Und Judit Polgar

Mit Judit ist es ähnlich. Ich kenne sie seit ihrem neunten Lebensjahr. Auch sie ist eine besondere Freundin. Beide haben gezeigt, dass das Gehirn von Frauen gleichermaßen leistungsfähig ist wie das von Männern. Judit war in den Top 10, sie konnte auch Kasparov schlagen. 

Was möchten Sie selbst noch erreichen? 

Meine letzten Jahre will ich damit verbringen, meine Erinnerungen aufzuschreiben. Ich hatte ein langes und interessantes Leben. Angefangen im Dschungel und später die Zeit mit dem Schach, das mir viel gegeben hat.

Und umgekehrt. Alles Gute und vielen Dank, Herr Friedel. 

Sehr gerne.

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