Judit Polgar

Im Dezember 2022 interviewte Lilli Hahn die ehemalige weltbeste Spielerin Judit Polgar für den FIDE-Podcast. Im Januar 2023 erschien dann eine bebilderte Zusammenfassung des Interviews im Schachmagazin64.

Hier kommt der Interviewtext:

Die Beste – Judit Polgar

Anfang Dezember wurde Judit Polgar in die “World Chess Hall of Fame” aufgenommen. Hochverdient, denn sie ist die beste Schachspielerin aller Zeiten. Mit nur zwölf Jahren drang sie bereits in die TOP 100 der Weltrangliste ein. Später schaffte sie es bis in die TOP 10 und inspirierte viele Menschen, das Schachspiel zu erlernen. 

Heutzutage nutzt sie ihre Popularität, um mehr Frauen zum Schachspiel zu bringen und um Schach als pädagogisches Instrument in der Kindererziehung zu stärken. Schachaktivistin Lilli Hahn hat Judit Polgar anlässlich des „Year of Woman in Chess” für den FIDE Podcast interviewt. Michael Busse von Schachgeflüster fasst die prägnantesten Aussagen zusammen

Frau Polgar, Sie leben in Budapest, einer Schachhochburg. Wie lebt es sich dort, und wie ist die Schachkultur in Ungarn ausgeprägt?  

Für mich ist Budapest eine der schönsten Städte der Welt. Ungarn verfügt über eine große und langjährige Schachtradition. Es gab immer über sehr starke Spieler, die in der Weltrangliste vorne mitmischten. Als Kind war das natürlich sehr inspirierend für mich. 

Sie sind in einer einzigartigen Schachfamilie aufgewachsen. Ihr Vater war Lehrer und förderte Sie in besonderem Maße in Ihrer schachlichen Entwicklung. Erzählen Sie uns doch bitte, wie Sie aufgewachsen sind. 

Als mein Vater meine Mutter kennenlernte, verfolgte er bereits diesen Gedanken, seine Kinder selbst zu unterrichten und in einer bestimmten Sache besonders zu trainieren. Ich wurde als drittes Kind nach meinen Schwestern Zsuzsan und Zsofia geboren. Beide spielten bereits früh Schach. Deshalb war es für mich völlig normal, im Alter von fünf Jahren ebenfalls mit dem Schach zu beginnen und schließlich Schachspielerin zu werden. 

Ihre Schwestern wurden ebenfalls hervorragende Schachspielerinnen. Sie wurden aber noch erfolgreicher als die beiden. Wie können Sie sich diesen Unterschied erklären? 

Erst einmal hatte ich Glück, dass ich Kind Nummer drei war. Denn ich profitierte von den Erfahrungen, die meine Eltern mit Zsuzsa und Zsofia gemacht hatten. Außerdem halfen mir meine Schwestern sehr. Davon abgesehen bin ich sehr wettbewerbsorientiert und mag Herausforderungen. Sicherlich habe ich auch ein wenig Talent abbekommen. Die vielen Erfolge, die ich bereits in jungen Jahren hatte, haben mir zudem einen Schub gegeben. 

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Zwischen Geschwistern herrscht ja oft eine besondere Rivalität. War diese bei Ihnen umso größer, weil Sie ja auch im Schach Konkurrenten waren? Oder hat Sie das sogar stärker zusammengeschweißt? 

Wir waren immer gute Freunde und hielten zusammen. Ich habe mich selbst oft gefragt, warum das so war. Ich glaube, es lag auch an den Schwierigkeiten in unserer Jugend, die wir gemeinsam überwanden. Angefangen vom ungarischen Schachverband, der uns überhaupt nicht unterstützt hat, bis hin zur ungarischen Regierung, mit der wir Probleme wegen des Heimunterrichts hatten. Der Widerstand, den unsere Familie überwinden musste, hat uns vermutlich enger aneinander gebunden. Wir waren füreinander da – so wie in einer kleinen Startup-Firma. 

In Interviews liest man ab und zu, dass Ihr Vater starke Schachspieler nach Hause eingeladen hat, die dann mit Ihnen und Ihren Schwestern trainiert haben. Hatten Sie ein eigenes Gästezimmer für Schachspieler? 

Ja, tatsächlich. Damals lebten wir alle zusammen in einem kleinen Apartment mit 60 Quadratmetern. Es gab das Schlafzimmer meiner Eltern, das gleichzeitig das Wohnzimmer war, und unser Kinderzimmer. Und dann hatten wir noch ein Gästezimmer, das oft fürs Schachtraining genutzt wurde. Häufig war es so, dass meine Eltern einfach auf irgendein Schachturnier gingen und sich nach einem starken Spieler umschauten. Diesen luden sie dann ein, um mit uns zu trainieren. Viele davon waren einfach neugierig und sagten zu. Einige kamen dann immer wieder. 

Wie stehen Sie zur Frage, ob es separate Turniere für Frauen geben sollte? 

Diese Frage wird mir schon seit einigen Jahrzehnten gestellt. Um ehrlich zu sein, ist es für mich sehr schwer, darauf eine gute Antwort zu geben. Jeder Mensch bringt bei solchen Fragestellungen seine eigenen Erfahrungen mit ein und bildet sich dann eine Meinung. Meine Eltern haben mir nie Grenzen nach oben gesetzt. Ich bin von ihnen so geprägt worden, immer zu versuchen, im Schach das Maximale zu erreichen. Im Gegensatz dazu ist es für viele andere Mädchen selbstverständlich, dass sie automatisch im Mädchenwettbewerb mitspielen. Für viele Mädchen und Frauen sind separate Turniere das Richtige. Aber vom Mindset her ist es besser, immer nach dem Höchsten zu streben. Wirklich talentierte Mädchen sollten sich daher nicht limitieren lassen und in der offenen Klasse mitspielen. 

Der Glaube an sich selbst spielt also auch eine wichtige Rolle? 

Absolut. Wissen Sie, was ich nie verstanden habe? Warum viele Mädchen so wenig Selbstvertrauen haben. Sie sind schüchtern und trauen sich nicht, Fragen zu stellen. Und wenn sie dann stärker werden, dann verlassen sie sich zu sehr auf ihren Trainer, zum Beispiel bei der Eröffnungsvorbereitung. Jungs dagegen trauen sich mehr zu fragen. Sie bilden sich viel früher ihre eigene Meinung und vertrauen ihrem eigenen Urteil. Und sie sind häufig auch neugieriger. Neugierde ist enorm wichtig, um im Schach erfolgreich zu sein. Und im Leben vermutlich auch. 

Hatten Sie selber jemals Probleme mit Ihrem Selbstbewusstsein? 

Anfangs nicht, weil ich einfach immer hervorragende Resultate hatte. Als ich später in die TOP 50 der Welt vorstieß, realisierte ich, dass ich diesen Topspielern teilweise unterlegen war. Das galt besonders für die Eröffnung. Meine Vorbereitung war häufig einfach nicht so gut. Natürlich gab es da auch schwache Momente. Aber ohne Selbstvertrauen kannst du nicht deine Bestleistung erzielen, egal auf welchem Niveau du dich bewegst. 

Sie trainierten unter anderem die ungarische Nationalmannschaft. Inwiefern schärfte das Ihr Schachverständnis? 

2014 zog ich mich vom professionellen Schach zurück. 2015 wurde ich dann Kapitänin des Nationalteams. Das war anfangs schon merkwürdig, weil ich mit Spielern wie Leko oder Almasy ja noch selbst zusammengespielt habe. Diese Leute kennen ihre Eröffnungsvarianten in- und auswendig, da musste ich ihnen gar nicht helfen. Meine Rolle war mehr, mich um den psychologischen Aspekt zu kümmern und den Spielern den Druck von den Schultern zu nehmen. Ich war auch für die Nominierungen zuständig. Manchmal traf ich aus Sicht der Spieler seltsame und riskante Entscheidungen. Aber so wie ich Schach spiele, so habe ich halt auch als Kapitänin gehandelt. Und wir waren damit erfolgreich. 

Schachstil und Charakter, gibt es da wirklich eine Verbindung? 

Ich glaube schon. Sicherlich gibt es keine hundertprozentige Übereinstimmung. Zu mir sagen es die Leute jedenfalls häufig, dass sie mich in meinem Schachstil wiedererkennen. 

Was war der größte Erfolg Ihrer Karriere? 

Es fällt mir schwer, das zu beantworten, weil meine Karriere so lang und intensiv war. Wenn ich eine einzige Partie auswählen müsste, dann natürlich mein Sieg gegen Garri Kasparov. Es gab aber schachlich interessantere Momente, wie zum Beispiel 1999 gegen Vishy Anand in Dos Hermanas. In dieser Partie spielte ich fast perfekt. Ein besonderes Ereignis war auch die Schacholympiade 1988, wo ich mit meinen Schwestern in einem Team für Ungarn spielte und wir die Goldmedaille gewannen. Damals traf ich zum ersten Mal Kasparov, der mir beim Spielen zuschaute. 

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Warum war der Sieg gegen Kasparov so besonders für Sie?

Es gab eigentlich zwei Meilensteine für mich, bei denen die ganze Welt auf mich schaute. Das erste Ereignis war, als ich im Alter von 15 Jahren Bobby Fischers Rekord brach und der bis dato jüngste Mensch mit einem Großmeistertitel wurde. Das zweite Ereignis war der Sieg gegen Kasparov. Das geschah in einer Schnellschachpartie in einem Wettkampf “Russland gegen die Welt”. Auf einmal wurde allen Leuten klar: Es ist möglich, dass eine Frau den Weltmeister besiegen kann. Das hatte einfach eine starke symbolische Wirkung. 

Glauben Sie, dass eine Frau irgendwann einmal sogar Weltmeisterin in der offenen Klasse werden kann? 

Vielleicht nicht in der näheren Zukunft. Ich denke aber gar nicht, dass das so wichtig wäre. Mir würde es viel mehr bedeuten, wenn wir drei Frauen in den TOP 10 hätten, als eine Weltmeisterin. Die Gesellschaft, die Eltern, die Trainer – alle müssen bereit sein, daran zu glauben, dass Frauen in der Weltspitze mithalten können. Und zwar nicht als Ausnahme, sondern als Regel. Dazu braucht es den absoluten Glauben sowie Hingabe. 

Sie organisieren jährlich das Judit Polgar Global Chess Festival. Worum geht es bei diesem Event? 

Ich möchte dort die Vielfalt des Schachs demonstrieren. Schach ist für alle Menschen zwischen 4 und 120 Jahren geeignet. Wir veranstalten dort ein Turnier, Simultanvorstellungen, Talentsichtungen und vieles mehr. Aber wir wollen auch zeigen, dass Schach abseits des Bretts eine Rolle spielt. In fast jedem Land der Welt gehört Schach zur Kultur. Ein besonderes Augenmerk liegt auf Schach als Werkzeug in der Erziehung von Kindern. Wir bieten verschiedene Plattformen, auf denen Schüler die Judit Polgar Methode für Schulkinder ausprobieren können. Wir hatten auch schon tolle Sachen wie z.B. Schachfiguren Backen aus Marzipan. Das Festival findet sowohl online als auch in der wunderschönen ungarischen Nationalgalerie statt. Die Stimmung ist immer sehr feierlich und positiv. 

Sie erwähnten die Judit Polgar Methode – was beinhaltet diese? 

Es geht mir dabei um die Rolle, die das Schachspiel heutzutage in der Erziehung spielen kann. Viele Länder haben Programme für Schulschach aufgelegt. Mit meiner Methode entwickeln wir Materialien für Lehrer. Damit ausgestattet, können die Lehrer dann den Kindern das Schachspiel besser vermitteln. Der Ansatz ist dabei ein sehr spielerischer und motivierender. Nebenbei werden Kompetenzen wie Entscheidungsfreude und Kreativität gefördert. 

Wie sind Sie denn bei der Entwicklung dieser Methode vorgegangen? 

Naja, der Anlass war, dass meine eigenen Kinder ins Kindergartenalter kamen. Ich schrieb dann gemeinsam mit meiner Schwestern für diesen Kindergarten ein kleines Büchlein mit Bildern, Reimen usw. Später haben wir das Ganze erweitert und gemeinsam mit Experten ausgerollt. Im Zentrum steht die Idee eines Schachpalastes als Ausgangspunkt für alle spielerischen Aktivitäten. Daher nennen wir es auch das Judit Polgar Chess Palace Program. Dabei geht es nicht um das Schachspiel selbst, sondern Schach als Tool. Bei den Schülern, Eltern und Lehrern kommt es jedenfalls gut an.  

Sie haben auch eine dreiteilige Autobiografie verfasst. Hat das eigentlich Spaß gemacht? Sicherlich ist es schwieriger, über das eigene Leben zu schreiben als eine Schachpartie zu analysieren. 

Es war definitiv ein langer Prozess. Mein Freund GM Mihail Marin half mir zum Glück dabei. Er ist übrigens so ein Beispiel für einen Besucher bei uns zuhause. Ich wollte auf jeden Fall eine Kollektion meiner besten Partien verfassen. Es sollte aber auch lehrreich für die nächste Generation sein. Deshalb habe ich auch einige unveröffentlichte Trainingspartien eingebaut. Daneben geht es auch um meinen Lebensweg und um die Frage, wie es kam, dass ich so gut werden konnte. Dazu habe ich zum Beispiel auch einige Geschichten aus meinem Tagebuch herausgesucht. Die Betonung liegt dabei auf meinen frühen Jahren, denn sie haben mich schließlich geprägt. Es war schon auch sehr interessant für mich, auf diese Weise noch einmal zusammenfassend auf meine Karriere zurückzublicken. 

Viele junge Schachfans kennen Sie als Kommentatorin von Schachturnieren. In letzter Zeit sieht man Sie häufiger in dieser Funktion. Was gefällt Ihnen daran? 

Es fing an mit dem Carlsen-Karjakin-Match 2016. Damals wurde ich gefragt, ob ich als Expertin zur Verfügung stehe. Ich hatte keine Vorstellung davon, was man sechs Stunden lang über eine Partie erzählen soll. Aber wir hatten im Studio ein gutes Team. Als Schachspieler ist das Kommentieren recht interessant, man kann die Gefühlslage der Spieler am Brett gut nachvollziehen. Wie fühlt sich zum Beispiel ein Carlsen, wenn er schlechter steht und gewinnen muss? Mir macht es Spaß, den Zuschauern vor allem diesen psychologischen Aspekt näherzubringen. Aber ich muss mich auch umstellen. Früher kannte ich viele Spieler noch aus meiner aktiven Zeit. Mittlerweile gibt es viele Newcomer, gerade aus Indien. 

Die FIDE hat das Jahr 2022 zum “Year of Woman in Chess” erklärt, aber das Jahr ist vorbei. Welche Aktivitäten würden Sie gerne im neuen Jahr in dieser Richtung sehen? 

Da gibt es viele Dinge. Zum Beispiel höhere Preisfonds bei Frauenturnieren. Seminare für Lehrer, Trainer, Eltern zum Thema Mindset. Wertschätzung für Frauen im Schach – nicht nur für Spielerinnen, sondern auch in anderen Rollen. Alle müssen überall helfen, um eine sichere Umgebung zu schaffen, in der sich Mädchen und Frauen wohl fühlen. Beschwerden von Frauen, die belästigt werden, müssen ernst genommen werden. Hervorragende Partien von Frauen sollten stärker in den Vordergrund gestellt werden. Was mir auch wichtig ist: Mädchen sollten nicht nur von Frauen inspiriert werden, sondern auch von Männern. Weibliche Vorbilder sind zwar wichtig, aber genauso essentiell sind Männer, die an die Leistungsfähigkeit von Frauen glauben. Ihre Stimmen möchte ich lauter hören. 

Vielen Dank Frau Polgar für Ihre Zeit und für die Einblicke, die Sie uns gewährt haben. 

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