Im Dezember 2021 interviewte ich Großmeister Hajo Hecht für den Schachgeflüster Podcast. Im März 2022 erschien dann die Zusammenfassung des Interviews im Schachmagazin64.
Hier kommt der Interviewtext:
Der Großmeister mit dem Doppelleben
Er spielte gegen die Weltmeister Karpow, Spasski, Tal, Smyslov, Petrosian und Botwinnik. Von den 60ern bis zu den 80er Jahren bestritt er 257 Länderspiele für Deutschland und nahm dabei an zehn Schacholympiaden teil. Außerdem ist er Buchautor, Endspielspezialist und ein bekennender Schachreisender. Schachgeflüster-Moderator Michael Busse hat den 82-jährigen Großmeister interviewt.
Herr Hecht, Ihr langjähriger Nationalmannschaftskollege Helmut Pfleger hat mir freundlicherweise den Kontakt zu Ihnen vermittelt. Sie haben jahrelang Seite an Seite gekämpft. Stehen Sie denn heute noch miteinander in Verbindung?
Allerdings! Durch die Pandemie ist der Kontakt etwas verringert worden. Aber normalerweise treffen wir uns alle zwei bis drei Wochen in München, essen etwas zusammen, quatschen ein bisschen und spielen natürlich dabei Schach.
Über Ihr Leben kann man viel in dem Buch „Rochaden: Schacherinnerungen“ erfahren, das Sie 2015 geschrieben haben. Wie sah Ihr erster Kontakt mit dem Schachbrett aus?
Im Jugendheim Lichtenrade gab es eine kleine Schachgruppe unter Leitung von Heinrich Früh, der sich später einen Namen als „Schachpastor“ gemacht hat. Er ermunterte mich, mir einen Schachpartner zu suchen. Den fand ich dann im Ehemann der Schwester meiner Englisch-Nachhilfelehrerin, ein Herr Uhlemann. Er legte großen Wert darauf, nicht mit Uhr zu spielen, sondern mit Nachdenken und Aufschreiben.
Wie ist eigentlich Ihre Vorliebe für Endspiele entstanden?
Meine Eltern hatten mir die DDR-Zeitschrift „Schach“ abonniert, die alle 14 Tage erschien. Ganz hinten gab es eine Kombinationsecke von Kurt Richter. Die habe ich immer als erstes durchgearbeitet. Weiter vorne befand sich eine andere Rubrik mit dem Namen „Kunststudien aus sowjetischer Meisterhand“ – typisch DDR-Jargon. Dort wurden viele Endspiele behandelt, die ich sorgfältig studiert habe.
Schon früh hatten Sie ein Faible für die Orang-Utan-Eröffnung. Wie kam das zustande?
Es gab ein witziges Buch von einem gewissen Leonhard Schiffler über die Orang-Utan-Eröffnung. Im Klappentext stand: „Wenn einmal ein Hecht im Karpfenteich auftaucht und 1. b4 spielt, dann gerät alles in Aufruhr.“ Das habe ich idiotischerweise auf mich bezogen und fing an, b4 zu spielen. Zunächst klappte das ja auch wunderbar. Bei meiner ersten deutschen Jugend-Meisterschaft in Traben-Trarbach habe ich nicht weniger als acht mal den Affen gespielt und sechs Partien davon gewonnen. Später hat mir Rudolf Teschner diese Eröffnung aber ausgetrieben.
1960 fand die Schacholympiade in Leipzig statt. Wie haben Sie diese erlebt?
Als DDR-Bürger konnte ich ganz regulär dorthin fahren. Ich war aber schon für die westdeutsche Olympiamannschaft nominiert und wollte dort meine künftigen Nationalmannschaftskollegen wie Unzicker und Lothar Schmid begrüßen. Als ich die Teamkabine betreten wollte, kam plötzlich ein Volkspolizist und herrschte mich an: „Keine Kontakte mit dem Klassenfeind!“ Da merkte ich erst, was ich für ein Doppelleben führte, und dass ich vielleicht in Schwierigkeiten geraten könnte. Ich habe mich dann ganz unauffällig verhalten und wieder den Partien von Tal, Euwe und Fischer gewidmet.
1961 wurde die Mauer gebaut. Sie mussten sich entscheiden zwischen der Nähe zu den Eltern in der DDR und der persönlichen Freiheit. Wie schwer fiel Ihnen die Entscheidung?
Die war sehr schwer. Ich bekam eine Vorladung vom Rat des Kreises in Rangsdorf und musste mich dort rechtfertigen. Schon zuvor hatte ich eine Warnung erhalten: „Da ist jemand, der weiß über dein Doppelleben Bescheid.“ Ich habe in alles eingewilligt, bin dann aber in Abstimmung mit meinen Eltern mit der S-Bahn nach West-Berlin gefahren und dort geblieben. Der Mauerbau kam erst zehn Tage später. Davon wussten wir damals noch gar nichts.
Das klingt ja wie in einem Agentenfilm. Trotz des Gefahrenbewusstseins haben Sie sich dann aber 1962 getraut, in ein anderes Land des Ostblocks zu reisen, nämlich nach Bulgarien zur Schacholympiade.
In der Tat war das als Republikflüchtling nicht ganz ungefährlich. Ich bekam aber vom bulgarischen Schachverband eine Art Garantie, dass mir nichts passieren würde. Der sportliche Reiz war dann so groß, dass ich hingefahren bin. Ich hatte das große Vergnügen, zweimal gegen die UdSSR antreten zu dürfen. Einmal spielte ich gegen Keres und einmal gegen Tal. Die Sowjets waren damals mit Botwinnik, Petrosian, Spasski, Tal und Geller sensationell besetzt.
Ihre Partie gegen Tal ist sehr berühmt. Sie hatten das Pech, dass Tal dort eine der besten Partien seines Lebens spielte. Wie war denn der Partieverlauf?
Wenn Sie mich fragen würden, welches die spannendste Partie meiner Karriere war, dann würde ich diese nennen. Ich hatte mir vorgenommen, möglichst solide und fest zu spielen. Dann opferte der Kerl plötzlich einen Bauern, den ich mir geschnappt habe. Daraufhin ging das ganze Zentrum auf. Tal ließ drei Figuren en prise. Dann brach die Hölle los. Scharenweise kamen Zuschauer herbei, ein Demobrett wurde aufgebaut. Ich starrte erstmal minutenlang auf die Umgebung. Erst nach einiger Zeit hatte ich Muße, mich um die Stellung zu kümmern. Die Partie war immer noch remisierbar, aber ich kam in Zeitnot und fand leider nicht die besten Züge. Hinterher die Tal´schen Analysen zu erleben, war eine ganz tolle Erfahrung.
Sprechen wir doch über eine tolle Gewinnpartie von Ihnen, die als „Hechts Unsterbliche“ gilt, nämlich gegen Raymond Keene. Inwiefern war die Partie besonders?
Keene verteidigte sich mit Caro-Kann, und ich baute mich erstmal normal auf. Ich begann dann aber, am Königsflügel mit den Bauern vorzupreschen, obwohl ich kurz rochiert hatte. Es entwickelte sich ein Königsangriff, und ich opferte eine Figur. Mein König stand natürlich auch nicht mehr so sicher. Ich hatte allerdings alles vorausberechnet und opferte einen weiteren Turm und gewann schließlich. Später zeigte mir allerdings Unzicker, dass mein Opfer nicht korrekt war.
Das macht ja nichts, bei Tal war das doch auch immer so.
[lacht] Das stimmt. Das hat der Partie auch keinen Abbruch getan. Gute Kombinationen sind eben manchmal fehlerhaft, Engine hin oder her. Wichtig ist, es sich zuzutrauen. Denn wenn du etwas Wahnsinniges machst, muss der Gegner auch erst einmal die richtige Erwiderung finden.
1970 begann eine 5-jährige Episode als Berufsspieler. Konnte man zu dieser Zeit als Schachprofi von den Einkünften leben?
Vermutlich war ich zu dieser Zeit der einzige deutsche Berufsschachspieler. Ich habe damals blutenden Herzens den Schachklub Tempelhof verlassen, um mich der Schachgesellschaft Solingen anzuschließen. Dort ermöglichte man mir einen ganz anderen Rückhalt. Letztlich half es mir, dass ich 1969 in Büsum die IM-Norm geschafft hatte, übrigens zeitgleich mit Robert Hübner. Als Internationaler Meister erhielt ich Einladungen zu Rundenturnieren im Ausland. Diese Chance konnte ich nicht an mir vorbeigehen lassen, und so habe ich mein Beamtenverhältnis gekündigt.
Sportlich gesehen war das ja auch eine sehr erfolgreiche Zeit für Sie, insbesondere auch mit dem Turniersieg in Dortmund 1973. Ein hochkarätig besetztes Schachturnier mit Teilnehmern wie Spasski, Keres und Andersson – war das Ihr Karrierehöhepunkt?
Das wird oft so kolportiert. Ich selbst denke anders darüber. Natürlich war das ein tolles Turnier, in das ich auch mit 3,5 aus 4 stark gestartet bin. Danach habe ich aber relativ flach und schlecht gespielt.
Sie haben bei dem Turnier auch den kurz zuvor entthronten Weltmeister Spasski geschlagen. War das für Sie denn nichts besonderes?
Doch, der Sieg gegen Spasski an sich war schon sehr speziell. Genau durch diesen Sieg habe ich es geschafft, den ersten Preis zu gewinnen. Schachlich gesehen war die Partie gegen Spasski aber gar nicht so aufregend. Ich war jederzeit bereit, Remis zu machen. Er opferte dann einen Bauern, und ich habe im Endspiel gewonnen.
Stimmt es eigentlich, dass Sie die Ewige Tabelle der Schachbundesliga begründet haben?
Ja, das stimmt. 1980 wurde die eingleisige erste Bundesliga gegründet. Solingen trat damals mit Boris Spasski an Brett eins an, Lubomir Kavalek war an Brett zwei und ich an Brett drei. Solche Granaten vor mir am Brett sitzen zu haben, war natürlich sehr wertvoll. Spasski hat immer das große Ganze gesehen. Als wir einmal eine Hängepartie von mir gegen Tony Miles analysierten, sagte Spasski zu mir: „You have to play like a very solid oil company.“
Zurück zur Ewigen Tabelle…
Richtig. 1980 fing ich an, für die Europa-Rochade über die Bundesliga zu schreiben. Es handelte sich eher um sachliche Berichte, Partien, kleine Begebenheiten. Das hielt ich 20 Jahre durch, gab es aber schlussendlich auf. Am Ende dieser Zeit machte ich dann eine Aufstellung, welche Vereine in dieser ersten Bundesliga mit welchen Spielern am Start waren. Daraus wurde eine riesige Excel-Tabelle. Ich war halt schon immer ein Zahlenfetischist.
A propos Solingen: Sie hatten dort noch einen anderen prominenten Vereinskameraden, der später auch Ihr Wegbegleiter in der Nationalmannschaft wurde: Robert Hübner. In Ihrem Buch schreiben Sie von einer freundschaftlichen Verbindung. Haben Sie für Hübner auch als Sekundant gearbeitet?
Vielleicht sollte man „gearbeitet“ durch „begleitet“ ersetzen. Für Hübner war es immer ungeheuer wichtig, jemanden zu haben, der mit ihm spazierte, ihn finnische Vokabeln abfragte oder mit ihm Sport trieb. Bei einem Turnier in Leningrad haben wir uns die Tischtennisbälle um die Ohren gehauen. Natürlich gehörte auch die schachliche Vorbereitung und Analyse dazu. Ich übernahm sozusagen die Rolle einer schwachen Engine für ihn. In Solingen spielten wir gemeinsam ganz erfolgreich Bundesliga und Europapokal.
Den letzten Abschnitt Ihrer aktiven Zeit im Spitzenschach verbrachten Sie beim FC Bayern München. Wie würden Sie diese Phase beschreiben?
Das war für mich sozusagen die Rolle abwärts. Ich stand fest im Beruf bei der Stadtverwaltung München, und die Familie war im Vordergrund. Die Mannschaft wurde im Verlauf immer besser mit vielen jungen starken deutschen Spielern wie Stefan Kindermann, Klaus Bischoff, Jörg Hickl, Markus Stangl und Gerald Hertneck. Diese Jungen waren unwahrscheinlich ehrgeizig, und allmählich rutscht man dann immer weiter runter. Irgendwann dachte ich mir: Das brauchst du nicht mehr. Also hörte ich erstmal auf, Schach zu spielen.
Nach der Zeit bei Bayern München und einer kleinen Pause wechselten Sie von der Bundesliga in die Zugspitzliga, nach Fürstenfeldbruck. Unter welchem Motto stand dieses Engagement?
Ich wollte zunächst einfach wieder ohne jeden Druck Schach spielen. Fürstenfeldbruck war zwar ein Fall um sechs Spielklassen, aber das machte mir nichts aus. Im Laufe der Jahre verstärkte sich die Mannschaft immer weiter, und wir stiegen bis in die Landesliga Süd auf. Inzwischen spiele ich seit 28 Jahren für Fürstenfeldbruck.
Ein weiterer Zeitsprung ins Jahr 2000 führt uns zu Ihrem Eintritt in den Ruhestand. Danach fingen Sie an, Reisen mit Schach zu verbinden. In welchen Ländern gelang Ihnen das denn am besten und schönsten?
Diese Idee hat mich immer schon fasziniert. Das Reisen gehörte für mich immer zum Schachspielen dazu. Ab 2000 habe ich den Schwerpunkt dann einfach umgedreht. Ich erwähne jetzt zum Beispiel die National US Open in Las Vegas. Dann habe ich die Canadian Open in der Nähe von Toronto gespielt. Dazu kamen die Neuseeländische und die Australische Meisterschaft. Auch auf der Insel La Réunion im Stillen Ozean habe ich ein sehr schönes Turnierchen mitgespielt. Das hat mir riesig gefallen.
Mit der deutschen Seniorenmannschaft wurden Sie 2004 Weltmeister. Viele Spieler wollen ja erst einmal mit Seniorenturnieren nichts zu tun haben. War das bei Ihnen ähnlich?
Da muss ich sofort „Ja“ sagen. 2000 bin ich einmal zum Spaß an den Tegernsee zur deutschen Seniorenmeisterschaft gefahren. Der Saal war rappelvoll, es summte wie in einem Bienenstock. Ich dachte mir: „Da spielst du nie mit.“ Das hat sich dann aber tatsächlich geändert, und so spielte ich auch für die deutsche Senioren-Nationalmannschaft. Die Mannschaft bestand aus Wolfgang Uhlmann, mir, Klaus Klundt und Burkhard Malich. 2004 auf der Isle of Man wurden wir punktgleich mit Israel Co-Weltmeister und auch zweimal Europameister.
Sie haben ja nicht nur die „Rochaden“ geschrieben, sondern u.a. 2009 das Endspielbuch „Königswege im Schach“ verfasst. Würde Ihr Buch einem heutigen Engine-Check standhalten?
Das Endspielwissen aus 2009 ist sicherlich nicht total überholt. Damals gab es schon 5-Steiner-Tablebases, mit denen man elementare Endspiele analysieren konnte. Aber gewiss würden mir einige Kommentare heute direkt um die Ohren gehauen. Ich habe das mit viel Herzblut geschrieben, weil ich Endspiele eben gerne mochte. 16 Jahre lang habe ich auch für ChessBase im Bereich Endspiele gearbeitet. Ich war der direkte Vorgänger des heutigen Endspielpapstes Karsten Müller. Meine Abschiedsvorstellung hatte ich im ChessBase-Magazin 100. Damals gab es noch Disketten [lacht].
Wenn Sie auf Ihr schachliches Leben zurückblicken: was bleibt?
Ich habe das Schachleben sehr genossen. Mit 10 Jahren habe ich es gelernt und danach immer betrieben. Insbesondere aber ist dieses Schach mit Reisen verbunden. Und das ist das, was ich immer am liebsten gemacht habe: Schach und Reisen.
Dann hoffe ich, dass Sie das Reisen nach der Coronazeit wieder aufnehmen können, dass die Gesundheit noch mitspielt und Sie die Freude am Schach noch möglichst lange behalten. Vielen Dank für das Gespräch, Herr Hecht.
Ich bedanke mich auch bei Ihnen, Herr Busse.