Im November 2021 interviewte Gastinterviewer Harald Schneider-Zinner die Schachenthusiastin Anita Stangl für den Schachgeflüster Podcast. Im Mai 2022 erschien dann die Zusammenfassung des Interviews im Schachmagazin64.
Hier kommt der Interviewtext:
Die Vielseitige
Anita Stangl ist eine der vielseitigsten Frauen in der Schachszene | von IM Harald Schneider-Zinner
Sie ist weibliche FIDE-Meisterin, hält einen Doktortitel, ist ausgebildete Grundschullehrerin und erfolgreiche Firmengründerin. Ihre Leidenschaften gelten dem Sport, dem Reisen und ihren beiden Kindern. IM Harald Schneider-Zinner hat die 56-jährige Unternehmerin und Schachspielerin interviewt.
Frau Stangl, neben dem Schach üben Sie auch noch weitere Sportarten aus. In welchen Disziplinen fühlen Sie sich denn am wohlsten?
Eine meiner Vorlieben ist das Tischtennis, auch wenn ich sicherlich auf einem schwachen Niveau spiele. Aber ich liebe diesen Sport, genauso wie das Tanzen und das Schwimmen.
Sie sind Gründungsmitglied der ChessSports Association (CSA) mit Sitz in Wien. Die CSA hat sich ja auch sportartübergreifende Aktionen auf die Fahnen geschrieben. Was versprechen Sie sich von Ihrer Mitgliedschaft?
Ich freue mich besonders auf die Kombiturniere mit anderen Sportarten, die wir organisieren werden. Das kommt natürlich auch dem Schachsport zugute. Ende April wollen wir ein Gedenkturnier zu Ehren meines verstorbenen Mannes Markus organisieren, bei dem wir Schach und Badminton kombinieren möchten.
Sport kann ja ein wunderbarer Ausgleich sein. Wieviel Stress sind Sie durch Reisen und Geschäftstermine in Ihrem beruflichen Umfeld ausgesetzt?
Natürlich ist Sport und insbesondere Schach ein schöner Ausgleich. Aber ich sehe meinen Beruf nicht als Stress, sondern ich liebe ihn. Ich reise auch von Herzen gerne, so dass ich dafür an sich keinen Ausgleich brauche. Trotzdem treibe ich natürlich gerne Sport.
Sie haben 2006 die Firma MedienLB gegründet. Womit befasst sich das Unternehmen?
Wir produzieren Bildungsmaterialien für den Schulunterricht. Mit den Materialien, die es bisher gegeben hat, war ich nicht zufrieden. Zuvor hatte ich das Institut für Film und Bild in Wissenschaft und Unterricht, das von den deutschen Bundesländern getragen wird, als Geschäftsführerin geleitet. Irgendwann habe ich festgestellt: privatwirtschaftlich geht das besser.
Interaktive Lehrmethoden sind ja auch für den Schachunterricht interessant, oder?
Das stimmt. Es gibt zum Beispiel ein kostenloses Tool namens H5P aus Norwegen, das bereits für Schachaufgaben eingesetzt wird. In der MedienLB arbeiten auch immer mindestens vier Schachspieler. Insofern sind wir sogar eine Art Schachfirma. Mit Uwe Bönsch zusammen haben wir auch einmal einen Schachfilm produziert, der den Mehrwert
des Schachsports für den Schulunterricht aufzeigt.
Wie stellt man sich in so einer Firma die Mittagspause vor? Stehen da die Schachbretter auf dem Mittagstisch, und es wird geblitzt?
[Lacht.] Das haben wir tatsächlich auch schon gemacht, aber im Moment wird der Tischkicker bevorzugt.
Sie engagieren sich schon seit Jahren für das Schach in Afrika. Wie sieht dieses Engagement konkret aus?
Seit vielen Jahren unterstütze ich die Initiative “Hilfe für Togo”. Auch Matthias Dräger, der Leiter der vormaligen Deutschen Schachstiftung, engagiert sich in Afrika, allerdings in Südafrika. Er trainiert dort Lehrer, die im Schneeballsystem andere Lehrer schulen sollen, um Schachunterricht zu geben. Wir sind von der MedienLB mit einem Kamerateam dorthin geflogen und haben den Unterricht abgefilmt, um dieses schöne Projekt zu unterstützen.
Wie haben die Kinder in Südafrika den Schachunterricht erlebt?
Man sieht einfach überall auf der Welt, wie Kinder fasziniert sind von dem Spiel. Die Kinder haben auch unheimlich viel Kreativität gezeigt. Gerade beim Material mussten wir manchmal improvisieren. Die Schachfiguren zum Beispiel haben wir ausgeschnitten, bemalt und auf Kronkorken geklebt. Mir hat das Projekt unglaublich viel Freude bereitet, genau wie den
Kindern.
Faszinierend ist ja auch zu sehen, wie ruhig Kinder werden können, wenn sie Schach spielen. Haben Sie diese Erfahrung auch gemacht?
Und ob. Mein Zweites Staatsexamen habe ich über Schach in der Grundschule geschrieben. Am Ende haben wir ein großes Schachturnier veranstaltet. Die Eltern konnten es kaum glauben, dass es ihre quirligen Kinder waren, die da so still saßen und konzentriert auf das Brett starrten. Das einzige, was man hörte, war das Ticken der Uhren. Das Feedback der
Eltern zu bekommen, war für mich nochmals eine Inspiration.
Für welche Kinder ist Schach Ihrer Meinung nach besonders geeignet?
Schach hat so viele Facetten. Es ist einerseits ein hervorragendes Mittel, um Kindern mit Förderbedarf zu helfen. Andererseits ist es aber auch ideal für Hochbegabte, um sie an ihre Grenzen zu bringen.
Im Internet habe ich ein Skript zu Ihrem Schachfilm gefunden. Darin haben Sie Tarrasch zitiert mit einer der schönsten Redewendungen, die es wohl über Schach gibt: “Das Schachspiel hat wie die Liebe, die Musik, die Fähigkeit, den Menschen glücklich zu machen. Ich habe ein leises Gefühl des Bedauerns für jeden, der das Schachspiel nicht kennt, so wie ich jeden bedaure, der die Liebe nicht kennt.” Was bedeutet Ihnen dieser Satz?
Das ist mein absolutes Lieblingszitat. Wenn ich darüber nachdenke, was ich in den nächsten Jahren erreichen und erledigen möchte, dann steht Schach absolut im Mittelpunkt. Schach hat bei mir nur einmal ein bisschen pausiert, nämlich als meine Zwillinge zur Welt kamen. Aber es blüht immer mehr auf. Und ich sage es zwar nicht gerne, aber ich bin inzwischen auch berechtigt, Seniorenmeisterschaften mitzuspielen. Da sehe ich eine große Perspektive,
weltweit durch die Schachlandschaft zu tingeln.
Zumal Sie ja auch unlängst Ihre erste Goldmedaille im Seniorenbereich geholt haben.
Ja, das war bei der deutschen Schnellschachmeisterschaft. Darüber habe ich mich natürlich sehr gefreut.
A propos Schachlandschaft: Schach verbindet über sprachliche und kulturelle Grenzen hinweg, sagt man. Haben Sie das auch schon erlebt?
Aber sicher. Vor drei Jahren waren ich mit meinen Jungs in Singapur, weil ich dort Freunde habe. Dazu gehört übrigens auch die ehemalige Leiterin der Schachakademie München, Dijana Dengler. Wir haben sie dort besucht. Eines abends sind wir zu einem Freiluftschachclub geschlendert. Obwohl wir dort keinen Menschen kannten, haben wir den ganzen Abend gespielt und kamen sofort in Kontakt. Das war wirklich ein Vergnügen.
Man hat den Eindruck, Sie sind ständig auf Achse.
Das Reisen ist natürlich auch eine Leidenschaft von mir. Ich verbinde auch Geschäftsreisen gerne mit Schachspielen oder auch mit Tangotanzen. Mein Steuerprüfer hat einmal gesagt, ich sei eine globale Persönlichkeit.
Zum Sportlichen: Sie spielen sowohl in der deutschen als auch in der österreichischen Frauenbundesliga. Wie kann man die beiden Ligen miteinander vergleichen?
Gute Frage! Sie sind sich grundsätzlich schon ähnlich, wobei die Bretterzahl unterschiedlich ist. Ich spiele in beiden Ligen sehr gerne und halte auch separate Frauenligen für sinnvoll. Persönlich finde ich es immer spannend, andere Spielerinnen zu treffen. Für mich ist ein Bundesligamatch auch ein Event, das man dazu nutzen kann, etwas gemeinsam zu
unternehmen. In meinem Team bei Bayern München spielt eine weitere Tangotänzerin. Am Abend sind wir dann mitunter auch im Tanzlokal anzutreffen.
Schach und Tango – eine beliebte Kombination?
Einen Tango tanzenden Großmeister kenne ich zwar nicht. Aber es gibt schon den ein oder anderen Schach spielenden Tangotänzer. Die Kombination ist allerdings gerade für eine Frau sehr schwer. Beim Tango muss ich völlig loslassen, der Führung des Mannes absolut vertrauen und aufhören nachzudenken. Am Anfang ist mir das sehr schwer gefallen, denn
Schach ist natürlich viel verkopfter.
Wie fühlt es sich an, für einen Verein wie Bayern München Schach zu spielen?
Die Schachabteilung von Bayern München ist insofern besonders, weil sie keine Spieler einkauft. Das gilt bei den Männern wie bei den Frauen gleichermaßen. Das finde ich sehr angenehm.
Mit der MedienLB sponsern Sie auch Schach-Leistungssport, nämlich den mehrfachen österreichischen Meister Schachklub Jenbach. Welche Ziele verfolgen Sie damit?
Neben dem Breitenschach und insbesondere dem Mädchenschach halte ich es auch für wichtig, den Leistungssport zu unterstützen. Das liegt mir sehr am Herzen. In Jenbach haben wir die Mannschaft aufgebaut und zum Bundesligatitel geführt. Das möchten wir am liebsten jedes Jahr wiederholen.
Spielt der Teamgeist auch im Spitzensport eine Rolle?
Der ist sogar besonders wichtig. Wann immer wir in Jenbach eine österreichische Meisterschaft feiern dürfen, wandern wir zum Beispiel gemeinsam um den idyllischen Achensee. Das Team wird stark zusammengehalten von unserem Johannes Duftner, der das großartig macht. Wir achten schon bei der Auswahl der Spieler darauf, dass sie vom Mindset her zur Mannschaft passen und fair miteinander umgehen. Ich glaube auch, dass unsere Spieler das sehr zu schätzen wissen.
Sie haben vorhin Ihren Mann Markus erwähnt. Er soll ein großer Fan von Mark Dvoretsky und dessen Ideen von der Prophylaxe gewesen sein.
Das ist völlig korrekt. Markus handelte immer extrem vorausschauend. Er hat immer schon vorgesorgt oder vorgebeugt. Und wenn etwas nicht funktioniert hat, dann hatte er immer einen zweiten oder dritten Plan in der Hinterhand. Diese Gedanken hat er sicherlich zum Großteil von Dvoretsky übernommen. Bayern München hat ja öfters solche Koryphäen als
Trainer eingeladen, so dass Markus einige Trainingsstunden mit Dvoretsky genießen durfte.
Welche Dinge aus dem Schach kann man noch ins normale Leben übertragen?
Neben der Prophylaxe und der Planfindung ist es sicherlich das Kämpfen. Nicht aufzugeben, sondern zu überlegen, ob es nicht doch noch eine Lösung gibt. Oftmals geht man im Schach tiefer in die Stellung und findet plötzlich doch noch einen rettenden Zug. Das Problem dabei ist natürlich, dass man in Zeitnot geraten kann, wenn man zu tief grübelt. Die Verzweigtheit und der Variantenreichtum des Schachs sind einfach faszinierend, und so ist es im Leben
doch auch.
Der Frauenanteil im Schach ist ja immer noch sehr niedrig. Haben Sie Tipps, wie man mehr Mädchen zum Schach bringen und sie im Schachsport halten kann?
Dazu habe ich eine ganz klare Meinung. Ich glaube, Mädchen brauchen eine andere Ansprache. Sie brauchen viel mehr rund um das Schach. Zum Beispiel Malen von Figuren, Tanzen mit Figuren, Bewegung dabei. Das reine Pauken ist nicht das, was Mädchen liegt. Und dann glaube ich auch, dass es Vorbilder geben muss. In Österreich tut sich da nach
meiner Wahrnehmung sogar mehr als in Deutschland.
Sie haben vor zwei Jahren den FIDE-Trainerschein absolviert. Wird das Thema Mädchen- und Frauenschach auch im Rahmen der Trainerausbildung angesprochen?
Absolut. Unser Ausbildungsleiter hat uns erzählt, dass Frauen beispielsweise Eröffnungen ganz anders lernen als Männer. Die Wissenschaft müsste viel stärker analysieren, auf welche Art und Weise Frauen und Männer jeweils vorgehen und lernen. Das würde sicherlich auch beim Schachsport Früchte tragen.
Sind Sie denn als Inhaber des Trainerscheins auch aktiv als Trainerin tätig?
Früher habe ich das sehr häufig gemacht, um mein Studium zu finanzieren. Vor einigen Jahren haben wir ja eine Schachakademie in Starnberg gegründet, die inzwischen leider geschlossen ist. In dieser Akademie hatten wir sehr viele Schülerinnen und Schüler, und dort habe ich natürlich auch immer gerne Training gegeben.
Wie man hört, sind Sie eng mit Dr. Helmut Pfleger befreundet. Wie ist diese Freundschaft entstanden?
Helmut war so lieb und hat mich vor vielen Jahren mitgenommen, als er für den WDR Schachsendungen aufnahm und Partien kommentierte. Das hat mir immer große Freude bereitet. Ab und zu hält er auch Vorträge hier im Schachclub in Starnberg. Wir freuen uns immer, wenn wir uns irgendwo begegnen.
Welches sind denn neben dem Gewinn der deutschen Senioren-Schnellschachmeisterschaft Ihre größten schachlichen Erfolge als Spielerin?
2015 habe ich die deutsche Frauen-Schnellschachmeisterschaft gewonnen. Davon abgesehen hat mir mein dritter Platz bei der australischen Meisterschaft gut gefallen. Ich bin auch schon deutsche Hochschulmeisterin gewesen und durfte damals zur Hochschul-Weltmeisterschaft fahren. Das war auch ein tolles Erlebnis, ebenso wie die Teilnahme bei einem Turnier in China. Uwe Bönsch hat uns damals gerettet, weil er in seinem Gepäck eine Salami eingeschleust hatte. Die haben wir jeden Abend heimlich genossen.
Auf Facebook posten Sie häufig Bilder vom Baden im Starnberger See. Gehört das zu Ihrem Tagesritual?
Ich habe vor vier Jahren damit angefangen, das ganze Jahr dort schwimmen zu gehen, ob es stürmt oder schneit. Dieses Schwimmen am Morgen gibt mir viel Power für den Tag. Der See kann natürlich besonders im Winter ziemlich kalt und ungemütlich sein. Wenn man nicht aufpasst, dann friert man mit den Händen am Gestänge fest. Aber wenn der Schnee auf dem Steg liegt und man dort durchläuft, um ins Wasser zu gelangen, dann ist das doch herrlich. Und wenn man aus dem Wasser kommt, fühlt man sich wie King Kong.
Es war eine wunderbare Unterhaltung mit Ihnen. Herzlichen Dank für das Gespräch, Frau Stangl!
Ich sage auch ganz herzlich Danke und sende liebe Grüße an alle Schachfans.