Schachressourcen im Internet, oder: Die Geschichte von Eric

In der Dezember-Ausgabe 2022 des Schach-Magazin64 veröffentlichte ich einen Überblick über Schachressourcen im Internet.

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Schachressourcen im Internet, oder: Die Geschichte von Eric

von Michael Busse

Vor einigen Monaten kam Eric das erste Mal in unser Vereinstraining. Eric fing erst durch die Netflix-Serie „Damengambit” mit dem Schach an. Als er seine erste Partie in unserem Clubraum spielte, hielt er zum ersten Mal in seinem Leben eine echte Schachfigur in der Hand.

Eric kam, sah und spielte unseren langjährigen Vereinsmeister völlig an die Wand. Nur durch eine Unaufmerksamkeit im Endspiel stellte er die Partie doch noch ein. Trotzdem waren wir alle erstaunt über Erics Spielstärke.

Eric ist nicht ausgedacht, es gibt ihn wirklich. Nicht nur bei uns im Verein, sondern überall. Leider landen viel zu wenige Erics wirklich im Vereinsraum, sondern bleiben lieber zuhause vor ihren Bildschirmen sitzen.

Doch wie konnte Eric in kürzester Zeit so gut werden? Woher kommt sein Eröffnungswissen, seine taktische Stärke? Woher sein Gefühl für schwache Felder, für offene Linien – und das trotz fehlender Spielerfahrung?

Seine rasanten Fortschritte hat Eric ohne Zweifel dem Internet zu verdanken. Das Schachmagazin64 berichtete bereits im Sommer 2000 über neue Trainingsressourcen, die während der Corona-Pandemie entstanden sind. Doch seitdem hat sich einiges getan. Zeit für einen neuen Überblick.

  1. Deutschsprachige YouTuber

Die erste Anlaufstelle für Spieler, die sich im Schach verbessern wollen, bildet die Videoplattform YouTube. Nationale Platzhirsche sind IM Georgios Souleidis („The Big Greek”) und GM Niclas Huschenbeth. Auch Bundestrainer Jan Gustafsson ist unter seinem privaten Kanal JanistanTV zu sehen, ist dort aber vorrangig fürs Entertainment zuständig.

Daneben gibt es auch kleinere Kanäle, die sich speziell der Schachverbesserung widmen. Zu nennen sind dabei insbesondere:

  • Schachpanda
  • Rafael Kloth
  • SchachmattTV

Wichtiger Tipp: Viele YouTuber sortieren ihre Videos nach Kategorien in sogenannten Playlists. Damit kann man aus der Vielzahl an Videos das für sich relevante Thema bzw. die passende Spielstärke herausfiltern.

  1. Englischsprachige YouTube-Videos

Wer das Schach-Englisch beherrscht, der darf aus einer enormen Menge an Schachkanälen auswählen. Die größten davon (und dies nicht ohne Grund) sind:

  • GothamChess
  • GMHikaru von Weltklassespieler Hikaru Nakamura
  • Agadmator

Die einstmals führenden Kanäle wie z.B. Playchess von GM Daniel King sowie Chessexplained (betrieben vom Deutschen IM Christof Sielecki) wurden inzwischen überholt, jedenfalls was die Nutzerzahlen anbelangt.

Eine besondere Empfehlung verdienen die Videos des Saint Louis Chess Club. Hier kann man eine Vielzahl an didaktisch aufbereiteten Vorlesungen ansehen. Für das Erlernen neuer Eröffnungen bieten sich dagegen der kroatische Kanal „HangingPawns” oder die Remote Chess Academy an.

  1. Online-Schachschulen

Wer auf YouTube von der Fülle der Inhalte erschlagen wird, fühlt sich vielleicht bei einer Online-Schachschule wohler. Der armenische GM Avetik Grigoryan nimmt mit seiner Schachschule ChessMood inzwischen eine Vorreiterrolle bei systematisch aufbereiteten Videokursen ein.

National ist besonders die Schachschule Chessence des zweifachen deutschen Meisters GM Niclas Huschenbeth zu nennen. Das Besondere: Ähnlich wie bei den Tigersprung-Büchern werden dort die Kurse nach der gewünschten DWZ sortiert. Eine Alternative bildet die Schachakademie Chessemy des Ehepaars Lubbe sowie GM Ilja Zaragatski. Einzigartig dort: Die Videokurse werden zum Download angeboten und können so auch offline angeschaut werden.

  1. Die großen Plattformen

Chess.com und lichess bilden mit Abstand die beiden weltweit führenden Schach-Plattformen, gefolgt von chess24. Alle drei Seiten bieten jeweils ein ganzes Universum an Trainingsmöglichkeiten an.

Exemplarisch sei dies anhand von chess.com dargestellt. Unter dem Menüpunkt „Lernen” kann man sogenannte Lektionen mit Übungsaufgaben absolvieren. Zudem lassen sich bestimmte Endspiel-Konstellationen gegen den Computer ausspielen. Herzstück der Trainingsressourcen sind die Taktikaufgaben. Dort gibt es nicht nur verschiedene Zeitmodi (z.B. die schnelle Variante des „Puzzle Rush”), sondern auch die Möglichkeit, die Aufgaben nach taktischem Motiv zu sortieren. Ähnliches gilt für lichess, das als einzige Plattform vollständig kostenlos ist.

chess24 besticht insbesondere durch eine hervorragende Abdeckung von aktuellen Schachturnieren. Weltklassespieler wie Peter Leko oder Peter Svidler kommentieren hier häufig die aktuellen Spitzenpartien. Empfehlenswert ist zudem der Katalog an Videoserien hochrangiger Autoren.

Auch Chesstempo entwickelt sich zunehmend zu einer Seite mit einem Rundum-Komplettangebot. Besonders im Bereich der Taktikaufgaben gilt Chesstempo unter vielen Experten als die beste Anwendung.

  1. Aimchess

Ein besonders ausgeklügeltes Werkzeug ist Aimchess. Aimchess gehört zur PlayMagnus Gruppe des norwegischen Weltmeisters Carlsen. Zunächst verknüpft man seine eigenen Usernamen aus den oben genannten Online-Plattformen. Aimchess analysiert dann die online gespielten Partien und wertet diese aus. So erhält man Angaben darüber, mit welchen Eröffnungen man besonders gut abschneidet, wie das eigene Zeitmanagement ist und vieles mehr.

Die Taktikaufgaben von Aimchess entstammen den selbst gespielten Onlinepartien. Hier kann man also bestimmte Positionen, in denen man in der Partie einen Fehler gemacht hat, nochmals trainieren. Das Online-Training wird auf diese Weise individueller als früher.

Äußerst hilfreich ist zudem folgende technische Finesse: Wenn man im Analysetool eine bestimmte Position eingibt, dann durchsucht Aimchess die gesamte YouTube-Bibliothek nach Videos mit genau dieser Stellung. Das kann hilfreich sein, wenn man beispielsweise eine Erwiderung auf eine unangenehme gegnerische Eröffnungsvariante sucht.

Wer sich besonders auf statistische Auswertungen der eigenen Eröffnungen fokussieren möchte, ist mit der Seite openingtree.com womöglich noch besser bedient als mit Aimchess.

  1. Chessable

Wer braucht heutzutage noch ein Schachbuch, wenn es doch Chessable gibt? Chessable bietet unzählige Schachbücher als eBook an. Der Clou: Die im jeweiligen Buch behandelten Partien lassen sich am Bildschirm nachspielen. Stellungen können direkt angeklickt und verändert werden. Gerade Taktikbücher wie die „Woodpecker Methode” lassen sich auf diese Weise bei Chessable besonders effizient studieren.

Eine Alternative zu Chessable bildet „Forward Chess”, wobei Chessable noch einen weiteren wesentlichen Vorteil bietet. Ursprünglich konzipiert wurde Chessable nämlich fürs Erlernen von Eröffnungen. Spieler können sich hier ihr eigenes Eröffnungsrepertoire zusammenstellen – und üben. Ähnlich wie beim Vokabellernen wiederholt man bestimmte Varianten immer wieder, bis sie sitzen. Den zeitlichen Abstand („spaced repetition”) gibt dabei das Herzstück von Chessable vor: Der sogenannte Move Trainer.

  1. ChessBase

Es gibt vermutlich keinen ambitionierten Schachspieler, der nicht ChessBase nutzt. Ab einem bestimmten Niveau ist die Nutzung der ChessBase-Partiedatenbank einfach Pflicht. ChessBase wurde über einen Zeitraum von 25 Jahren mit immer neuen Möglichkeiten kontinuierlich weiterentwickelt. Mit dem Programm kann man Partien nachspielen, speichern und eigene Kommentierungen erstellen. Man kann auf jede erdenkliche Art Partien herausfiltern und mit Blick auf Eröffnungen, Mittelspielmotive oder Endspieltypen statistisch bewerten. Ebenso kann ChessBase zur Vorbereitung auf die Eröffnung des nächsten Gegners genutzt werden.

  1. Twitch

Twitch-Streaming heißt das neue Zauberwort für Reichweite im Online-Bereich. Eigentlich ist Twitch eine Gaming-Plattform. Fans können ihren Vorbildern live beim Spielen zusehen und über den Chat mitwirken. Schach befindet sich übrigens nur auf Rang 45 der beliebtesten Spiele.

Die effektivste Methode zur Schachverbesserung ist Twitch vermutlich nicht. Aber Twitch lässt Idole entstehen, die das Schachspiel auf der ganzen Welt als Botschafter weiterverbreiten. Dazu gehören etwa die Botez-Schwestern oder Anna Cramling beziehungsweise auf nationaler Ebene Namen wie Kugelbuch oder Fritzi. Letzterer hat schon zwei Mal live gegen Hikaru Nakamura gewonnen.

Auch der deutsche Schachbund betreibt einen Twitch-Kanal („SchachdeutschlandTV”), auf dem immer wieder Übertragungen von Turnieren stattfinden. Und wer auf Twitch doch Wert aufs Lernen legt, dem sei besonders der Kanal „Frauenschachexperten” unserer Nationalspielerinnen Pähtz, Heinemann und Schulze empfohlen.

  1. Was kommt als nächstes?

Aktuell ist ein deutlicher Trend in Richtung individualisierter Statistiken erkennbar. Was Aimchess vorgemacht hat, hat chess.com mit der Funktion „Tiefe Einblicke” nachgebildet: Der Algorithmus erstellt für den einzelnen Spieler Auswertungen und generiert daraus individuell passende Aufgaben oder sogar Trainingspläne. Gelernt wird nicht mehr nach Vorgabe, sondern entlang der eigenen Stärken und Schwächen.

Ein weiterer Trend ist die intelligente, KI-unterstützte Spielanalyse. Früher konnte man anhand der Engine-Bewertungen lediglich sehen, ob ein Zug gut oder schlecht war. Heute können Analysetools auch das „Warum” erklären. Pionier war hier ursprünglich das Tool DecodeChess aus Israel. Inzwischen ist auch an dieser Stelle chess.com wieder führend. Der Algorithmus der Amerikaner beherrscht Hinweise wie „Du hast eine Gabel übersehen” oder „Das ist ein guter Zug, weil dein Turm eine offene Linie besetzt.” Voraussetzung dafür ist eine sogenannte Diamant-Mitgliedschaft. Ob das schon einen menschlichen Trainer ersetzt? Sicherlich noch nicht ganz, doch es kommt dem schon ziemlich nahe.

  1. Und Eric?

Eric hat inzwischen sein erstes Punktspiel für uns absolviert, und das erfolgreich. Eric weiß: Er könnte sein Training noch viel systematischer angehen. Zum Beispiel sollte er sich einen Trainingsplan erstellen, um sein Pensum im Internet zu strukturieren. Dies würde ihn auch davor bewahren, weniger Zeit mit Videos zu sinnlosen Eröffnungsfallen oder kuriosen Gambits zu vergeuden. Doch lieber kommt er inzwischen zu unseren Vereinsabenden oder hilft beim Jugendtraining. Denn von uns bekommt er etwas, das ihm keine Internetseite der Welt wirklich bieten kann: Echte Zugehörigkeit. Und das Gefühl, wie es ist, eine leibhaftige Schachfigur anzufassen.