Hat eine Katze einen Schachboom verursacht?

In der März-Ausgabe 2023 des Schach-Magazin64 veröffentlichte ich einen Artikel zum aktuellen Schachboom auf chess.com.

Hier die Artikel als pdf:

Und hier der Text meines Artikels:

Hat eine Katze einen Schachboom verursacht? 

Wer sich in den letzten Wochen bei chess.com zum Onlineschach eingeloggt hat, bekam dort möglicherweise eine Fehlermeldung angezeigt: Error 502, Gateway defekt. Der amerikanische Branchenprimus musste kleinlaut eine Überlast seiner Server zugeben. Und dies ausgerechnet, nachdem man sich kurz zuvor durch den Kauf der Play Magnus Gruppe quasi ein Monopol im Onlineschach aufgebaut hatte. 

Die von chess.com vorgebrachte Erklärung gab hingegen Anlass zur Freude. In den ersten Januarwochen fand ein explosionsartiger Schachboom statt. Während man im Jahr 2022 noch maximal 7 Millionen tägliche Besucher verzeichnete, wurde am 20. Januar der Rekord von 10 Millionen Besuchern gebrochen. Täglich registrieren sich 300.000 neue Nutzer auf der Plattform – mehr als zu Zeiten der Netflix-Serie “Das Damengambit”. Schöne neue Online-Welt. 

Erklärungsversuche für den Boom lieferte chess.com gleich mit. So zum Beispiel die (positiven) Nachwirkungen des Schachdramas um Hans Niemann oder das millionenfach angeklickte Bild von Lionel Messi und Cristiano Ronaldo, die auf einer im Schachbrettstil gemusterten Louis-Vuitton-Tasche Schach spielen. 

Der kurioseste Erklärungsversuch für den Schachhype ist eine Katze namens Mittens. Mittens wurde am 1. Januar von chess.com als Online-Computergegner für ambitionierte Spieler generiert. Hinter dem virtuellen Vierbeiner steckte aber nicht nur eine unglaublich starke Engine. Mittens bekämpfte seine Gegner auch mit hämischen Sprüchen und Boshaftigkeiten. In den sozialen Medien wurde Mittens gefeiert. Nur Magnus Carlsen weigerte sich, gegen Mittens anzutreten. Mittens, der neue Niemann? “Ich kann nicht glauben, wie dieser transparente Marketing-Trick funktioniert. Das ist nur ein seelenloser Computer”, gab der Noch-Weltmeister zu Wort. Doch trotz Carlsens Ablehnung wurde Mittens zum Erfolg. Unzählige YouTube-Videos über das gemeine Kätzchen wurden erstellt und konsumiert, bevor Mittens Anfang Februar wieder deaktiviert wurde. 


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A propos Videos. Schachvideos nehmen inzwischen eine immer wichtigere Rolle ein. Dabei ist aber nicht die Rede von endlosen und ermüdenden Livekommentierungen, sondern von Kurzvideos. Shorts (so heißt es bei YouTube) oder Reels (so nennt es Instagram) werden täglich millionenfach konsumiert. Der Inhalt verflacht dabei natürlich, entscheidend sind Reichweite und Wiedererkennungswert. Rubinstein oder Botwinnik? Kennt außerhalb der Schachblase kein Mensch, aber YouTuber wie GothamChess oder die Botez Schwestern sind in den USA zu Celebrities geworden. Und in Deutschland schafft es ein TikTok-User namens “Willeinhelm” regelmäßig, Kurzvideos mit Zugriffszahlen weit oberhalb einer Million Klicks zu produzieren. Schöne neue Online-Welt. 

Übrigens ist chess.com nicht der einzige Profiteur des Online-Hypes. Auch lichess und ChessBase verzeichneten Zugewinne an Nutzern, wenn auch in geringerem Maße. ChessBase-Chef Matthias Wüllenweber führt auf Anfrage des Schachmagazins64 aus: Beim Schachserver sind es plus fünf Prozent, beim Taktiktraining plus sieben, so ähnlich auch bei den Nachrichtenseiten. Etwas deutlicher sieht es bei schach.de aus: Hier haben wir im Januar knapp 30 Prozent gewonnen. Das scheint die These zu belegen, dass der Boom von Besuchern getrieben wird, die sich außerhalb der traditionellen Schachszene bewegen.”

Die von Wüllenweber erwähnte Seite schach.de gilt eher als Anlaufstelle für Beginner. Dies lässt durchaus hoffen, dass auch in Deutschland eine erhebliche Anzahl an Einsteigern den Weg ins Schach findet. Leider teilt nicht jeder diese Hoffnung, denn so mancher fürchtet um seinen elitären Status, den er als Schachspieler innehat. Entsprechend grantelig zeigt man sich gerne im Vereinsheim gegenüber Neuankömmlingen. 

Ohnehin ist fraglich, wie viele der neuen Schachbegeisterten den Weg in einen Schachverein finden. Internetschach trifft offensichtlich – leider?! – den Zeitgeist; doch ist dies auch bei Schach am Brett der Falll? Die Teilnehmerzahlen an den derzeit stattfindenden Schachturnieren wie z.B. den Deutschen Schach Amateurmeisterschaften (DSAM) deutet darauf hin. Fast alle Turniere melden zurzeit Teilnehmerrekorde. Doch erst die nächste Analyse der Zahlen zur Mitgliederentwicklung wird weiteren Aufschluss geben. Beim Mitgliederwettbewerb des Deutschen Schachbundes liegen jedenfalls mal wieder die Schachzwerge Magdeburg vorne. Die kleinen Schachvereine spüren dagegen zurzeit keinen Hauch eines Booms, sondern kämpfen ums Überleben – wenn sie denn kämpfen. 

Für einen neuerlichen schachlichen Höheflug könnte übrigens eine Fortsetzung der Netflix-Serie “Das Damengambit” sorgen. Beth Harmon-Darstellerin Anya Taylor-Joy sorgte kürzlich für Verzückung, als sie in einem Tweet eine zweite Staffel der Serie in Aussicht stellte. Hinterher gab sie bekannt: Ihr Twitter-Account wurde gehackt. Schöne neue Online-Welt. 


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