Die Gründe für den indischen Schachboom

In Indien gibt es zurzeit einen unglaublichen Schachboom. Das Land produziert immer mehr starke Spieler und Großmeister. Mit Vidit, Praggnanandhaa und Gukesh nehmen im April dieses Jahres drei indische Spieler am Kandidatenturnier teil, bei den Damen immerhin zwei Spielerinnen (Humpy und Vaishali).

Auch in der Breite gibt es eine unglaubliche Qualität. Zum 1. März 2024 musste die FIDE das Elo-Ratingsystem anpassen, weil die vielen unterbewerteten jungen Inder das Wertungsgefüge durcheinander gebracht haben. 

Da ist es kein Zufall, dass der 8-Jährige Ashwath Kaushik, der vor einigen Wochen als jüngster Spieler der Welt einen Großmeister besiegte, ebenfalls indischer Staatsbürger ist. Allerdings zog er vor sieben Jahren mit seiner Familie nach Singapur und tritt international für den singapurischen Verband an. (Quelle: AsiaOne). 

Ashwath Kaushik (Foto: David Llada)

Doch welche Ursachen hat eigentlich der indische Schachboom? Hier sind die wichtigsten Gründe: 

1. Vishy Anand

Der mittlerweile 54-Jährige wurde 1988 zum ersten indischen Großmeister. Er startete eine „one man revolution“ und war der ursprüngliche Auslöser des Schachbooms. In seinem Sog reiften viele weitere Spieler heran, und es wurden Trainingszentren gegründet. Noch heute ist der 5-malige Weltmeister ein Vorbild für indische Kinder. Dass er sich nicht zur Ruhe gesetzt hat, sondern immer noch aktiv ist, ist ein Segen für das indische Schach. 

Das Leben und die besten Partien von Anand bis zum Jahr 2012 sind in diesem Buch von Anand und John Nunn beschrieben: 

2. Die All India Chess Federation (AICF)

Der indische Schachverband gilt als sehr umtriebig. Offenbar mit genügend finanziellen Mitteln ausgestattet, führt der Verband regelmäßig Trainingscamps für seine Talente durch und organisiert zahlreiche Turniere. 

3. Hervorragende Trainer

Gute Trainer produzieren gute Spieler. In Indien gibt es in verschiedenen Landesteilen private Schachakademien, die sehr erfolgreich sind. Ein Beispiel bildet der „Velammal Educational Trust“, der nicht weniger als neun Großmeister produziert hat, darunter Praggnanandhaa und Gukesh.

Der wohl bekannteste indische Trainer RB Ramesh wird gar als „Pep Guardiola des Schachs“ bezeichnet. In seinem Buch „Improve your chess calculation“ erläutert er einen Teil seiner Theorien und Praxisübungen: 

4. Ein sicheres Grundgehalt

Deutsche Talente müssen meist zunächst ihr Abitur absolvieren und ggf. anschließend studieren, um in Sachen Lebensunterhalt auf Nummer sicher zu gehen. In Indien dagegen erhalten ausgewählte Spieler eine Anstellung bei einem staatlichen Unternehmen des öffentlichen Sektors. Dort sind sie formal beschäftigt und beziehen ein regelmäßiges Gehalt, müssen aber keine Arbeitsleistung erbringen. Somit können sie sich ganz aufs Schach konzentrieren. 

5. ChessBase India

Der wohl produktivste Schachjournalist der Welt ist Sagar Shah. Gemeinsam mit seiner Frau Amruta Mokal reist er durch die Welt und berichtet von Schachturnieren mit indischer Beteiligung, wie zuletzt beim Freestyle Chess in Weissenhaus. Der YouTube-Kanal ChessBase India hat 1,49 Mio. Abonnenten. Shah inspiriert mit seinen Videos viele junge Menschen in Indien, eine Schachkarriere aufzunehmen. Für indische Spieler hat Shah Sonderpreise für ChessBase-Software ausgehandelt (im Bild z.B. ChessBase 17): 

6. Die neue Generation

Schon 2019 sagte RB Ramesh in einem Video, dass der Schachboom auch von der neuen Generation getrieben wird. Junge Inder sehen die Erfolge von Spielern wie Sarin, Praggnanandhaa und Erigaisi und eifern ihnen nach. Das verursacht eine Art Schneeballeffekt. 

7. Indische Arbeitsethik und Leistungskultur

Indische Schachtalenten wird nachgesagt, besonders fleißig zu sein. Während in Indien früher die deutsche Arbeitsethik bewundert wurde, lässt sich jedenfalls im Schachspiel beobachten, dass manche indische Spieler mit sehr viel mehr Zeiteinsatz an ihrem Spiel arbeiten. Gepaart wird dies mit einer Kultur, die Leistung honoriert, d.h. gute Leistungen werden ins Schaufenster gestellt und wecken den Ehrgeiz von Nachahmern (vgl. Beitragsbild) 

8. Der Comdedian Samay Raina

Samay Raina ist ein indischer Stand-up-Comedian und YouTuber mit enormer Reichweite. Während der Corona-Pandemie begann er, Schachpartien auf seinem Kanal zu streamen. Sein erster prominenter Gast war der YouTuber Agadmator. Kurz darauf lud er auch den indischen GM Vidit Gujrathi auf seinen Kanal ein, später auch Judit Polgar, Anand und sogar Carlsen. Mit seinen Shows trug Samay wesentlich zur Popularisierung des Schachs in Indien bei. 

Bild: https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=94955647

Fazit und Ausblick

Dem indischen Schach stehen goldene Zeiten bevor. Ob die Inder aber wirklich die Schachszene beherrschen werden wie einst Russland, muss sich noch zeigen. Durch die Globalisierung und den weit verbreiteten Zugang zu Trainingsressourcen hat heutzutage jedes Talent auf der ganzen Welt gute Möglichkeiten, um an die Spitze zu stoßen.