Durchstarten im Erwachsenenalter mit Chessable

Der folgende Artikel über Schachverbesserung mithilfe von Chessable erscheint in der März-Ausgabe 2024 des Schach-Magazin 64. Schachgeflüster-Leser erhalten ihn hier vorab ungekürzt:

Im Jahr 2015 wurde die Schachplattform Chessable gegründet. Heute gehört Chessable zu chess.com und ist eine der wichtigsten Plattformen zum Lernen von Eröffnungen und allgemein für das Thema Verbesserung im Schach. Ein vierköpfiges Team ist für den deutschsprachigen Markt zuständig. Geleitet wird das Team von FM Christoph Kuberczyk. Michael Busse von Schachgeflüster sprach mit ihm über die Vorzüge von Chessable und darüber, wie man als Erwachsener seine Spielstärke steigern kann. 

Herr Kuberczyk, wie würden Sie Chessable jemandem erklären, der davon noch nie gehört hat? 

Chessable ist eine Webseite, die Online-Schachkurse veröffentlicht. So wie es schon seit Jahrhunderten Schachbücher in Papierform gibt, kann man bei uns eben Onlinekurse erhalten. Die wohl bekanntesten sind unsere großen Eröffnungskurse mit dem Namen „Lifetime Repertoires. Wir verstehen uns aber nicht nur als eine Art Verlag, sondern auch als eine E-Learning-Plattform. Wir haben auch viele andere Kurse in unterschiedlichen Größen für unterschiedliche Spielstärken. Die Nutzer können ihre Varianten mit dem sogenannten Move Trainer einstudieren. So nennen wir unsere Technologie, mit denen man Züge selbst auf dem elektronischen Brett ausführen kann. 

Man kann sich Züge und Varianten auch abfragen lassen. Wie funktioniert das genau? 

Chessable zeigt den Nutzern an, welche Stellungen sie sich noch nicht angeschaut haben oder bereits angeschaut haben und wiederholen sollten. Das didaktische Konzept, das dahinter steht, nennt man „spaced repetition“. Das bedeutet, dass nach wissenschaftlichen Methoden ein bestimmter Wiederholungsrhythmus vorgegeben wird. Damit bekämpft man quasi die Vergessenskurve. Jeder kennt das ja: Vor dem Mannschaftskampf schaut man sich schnell eine Variante an, aber zwei Tage später ist die Hälfte schon wieder vergessen. Mit dem Prinzip von spaced repetition, also mit regelmäßigen Wiederholungen, sitzt das Gelernte dagegen besser. Die Wiederholungsintervalle werden größer, je häufiger man das Material wiederholt hat. Man kann seine eigenen Wiederholungsintervalle auch individuell für jeden Chessablekurs anpassen.

Ist Chessable eigentlich kostenlos? 

Wir haben viele freie Kurse auf unserer Webseite. Man kann im Menü auch nach kostenlosen Kursen oder Sonderangeboten filtern. Von jedem großen Eröffnungskurs veröffentlichen wir immer eine kostenfreie Kurzversion mit dem Namen „Short & Sweet“. Das ist wie eine Art Crashkurs, den sich jeder umsonst holen kann, um zu prüfen, ob einem die Eröffnung grundsätzlich liegt und ob man mit dem Stil des Autoren klarkommt. Aber unsere Autoren arbeiten natürlich nicht für lau. Wenn man also einen vollen Kurs haben möchte, dann kostet das schon Geld. 

Kann man sich auch ein eigenes Eröffnungsrepertoire zusammenstellen, anstatt ein fertiges Repertoire zu kaufen? 

Das geht auch. Dazu geht man auf den Menüpunkt „Kurs erstellen“. Man öffnet dann das Analysebrett, gibt die Varianten ein und speichert sie ab. Außerdem kann man Kommentare ergänzen, die typischen Schachsymbole wie Ausrufe- und Fragezeichen ergänzen und ähnliches. Das ist sicherlich eine sehr intuitive Art, wie man einen Kurs selbst erstellen kann. Eine weitere Methode wäre, pgn-Dateien zu importieren und in einen Kurs zu verwandeln. Dazu ergänzt man dann Angaben wie zum Beispiel, ob der Kurs aus weißer oder schwarzer Sicht gelernt werden soll. Im Großen und Ganzen ist das Kerngerüst der Seite glaube ich schon recht intuitiv. 

Chessable veröffentlicht ja auch bekannte Bücher in Kursform, wie zum Beispiel „100 Endgames You Must Know“ und ähnliche Klassiker. Hat das ausgedruckte Buch überhaupt noch einen Wert? 

Wir werden physische Schachbücher sicherlich nicht komplett verdrängen. Ich muss zugeben, dass ich selbst auch richtige Bücher in meinem Regal stehen habe. Es ist immer die Frage, was für eine Art Lerntyp man ist. Chessable bietet eben den Luxus, dass man sich Stellungen immer am Computer ansehen kann. Ich glaube schon, dass Chessable das Lernen im Schach deutlich vereinfacht im Vergleich zu physischen Büchern, gerade wenn es um Themen wie Eröffnung geht. 

Lenkt der starke Fokus auf Eröffnungen die Nutzer nicht von wichtigeren Partiephasen ab? Die allermeisten Partien auf Amateurniveau werden schließlich im Mittel- oder Endspiel entschieden. 

Ich kann den Punkt nachvollziehen. Das ist aber bei Chessable nicht anders als bei Büchern in Papierform. Wenn man sich sein eigenes Schachbuchregal mal anschaut, dann stehen da in den meisten Fällen überwiegend Eröffnungsbücher. Eröffnungen entwickeln sich einfach stärker weiter als das Mittelspiel- oder Endspielwissen. Auf unserer Webseite gibt es aber auch jede Menge anderer Kurse. Wer Mittelspiel, Endspiel oder weitere Aspekte des Schachs lernen möchte, der wird bei uns ebenso fündig. 

Eröffnungstraining macht ja auch am meisten Spaß, und es gibt einem das Gefühl, etwas aktiv beeinflussen zu können. 

Genau. Wenn ich irgendein spezielles Endspiel studiere, dann bekomme ich das vielleicht nie aufs Brett oder erst Jahre später. Aber wenn ich mir eine Eröffnung angucke, weiß ich: Innerhalb der nächsten vier Blitzpartien ist die Eröffnung wahrscheinlich direkt dabei. Man muss auch dazusagen, dass gute Eröffnungskurse mehr lehren als nur die ersten Züge. Ein guter Eröffnungskurs vermittelt Wissen über typische Pläne, Manöver und Taktiken. So lernt man auch bei einem Eröffnungskurs mehr als nur die Eröffnung selbst. 

Das Interview als Podcast hier anhören

Ein weiterer Kritikpunkt an Chessable ist, dass man durch den Move Trainer eher das Auswendiglernen übt und nicht das echte Schachverständnis. 

Nach dem letzten Mannschaftskampf, den ich gespielt habe, hat mein Gegner hinterher einen Bericht geschrieben und mich als „typischen Chessable-Auswendiglerner“ bezeichnet. Das fand ich in vielerlei Hinsicht unpassend. Wenn du heutzutage bei Chessable moderne Eröffnungskurse studierst, dann geht das wie gesagt über das reine Auswendiglernen hinaus. Unsere Kurse sind die wahrscheinlich am besten kommentierten Kurse auf dem Markt. Ich habe den Eindruck, solche Aussagen kommen von Leuten, die noch nicht so viel auf Chessable trainiert haben. 

Neben Chessable als Tool zum Verbessern sollten wir auch noch über Chessable als Unternehmen sprechen. Wo ist eigentlich der Firmensitz? 

Der offizielle Sitz ist London. Dort haben wir einen Co-Working Space. In Barcelona gibt es dann noch ein Büro. Aber der Großteil des Teams ist in der ganzen Welt verstreut. Das macht das Zusammenarbeiten sehr spannend, weil man viele Leute aus anderen Ländern kennenlernt. Die meisten Kurse werden mittlerweile von den Autoren zuhause produziert. 

Im Jahr 2022 hat Chessable 29 Mitarbeiter entlassen. Es gehörte damals schon zur Play Magnus Group, die mitten im Krisenmodus war. Waren Sie damals schon dabei? 

Ja, ich bin seit Mitte 2021 bei Chessable. Ich habe natürlich mitbekommen, dass viele entlassen wurden. Das war damals ein richtiger Schock für uns. Es hat auch einige erwischt, mit denen ich eng zusammengearbeitet habe. Mehr kann ich dazu gar nicht sagen. 

Wie sind denn die wirtschaftlichen Verhältnisse jetzt? Chess.com hat vor kurzem das Licht bei Chess24 ausgeschaltet. Wird das mit Chessable auch bald passieren? 

Ich habe keine tiefen Einblicke in die wirtschaftlichen Zahlen. Aber Chessable wird sicherlich einer der Gründe gewesen sein, warum chess.com damals die Play Magnus Group gekauft hat. Ich würde mir da aber überhaupt keine Sorgen machen. Soweit ich weiß, ist Chessable seit einer ganzen Weile profitabel. Aber für genauere Angaben bin ich nicht der richtige Interviewpartner. 

Wie sind Sie 2021 überhaupt zu Chessable gekommen? 

Ich hatte damals wirklich Glück. Es war gerade die Pandemie, und Schach hat ordentlich geboomt. Chessable hat damals viele Leute eingestellt. Ich war gerade mit meinem Wirtschaftsinformatikstudium fertig. Tatsächlich war es dann meine Freundin, die mich auf die Idee gebracht hat, nach einem Job in der Schachwelt zu suchen. Ich habe dann einfach mal nach „Schach“ und „Jobs“ gegoogelt. Da habe ich sofort die Stellenausschreibung von Chessable gefunden. So kam das eine zum anderen. 

Welche verschiedenen beruflichen Stationen bei Chessable haben Sie absolviert? 

Angefangen habe ich als Editor. Das ist ein Job, mit dem viele bei Chessable starten. Soweit ich weiß, trifft das auch auf unseren jetzigen CEO Geert van der Velde zu. Als Editor bringt man quasi den Kurs auf die Seite, strukturiert ihn und editiert ihn so, dass er schön aussieht. Nach einem halben Jahr bin ich dann Publishing Manager in einem der englischen Teams geworden. Im Zuge der Entlassungen wurde das Team aufgelöst. Ab da war ich dann der Community Publishing Manager. Das bedeutet, ich war für die Kurse zuständig, die von Community-Mitgliedern veröffentlicht werden, also begeisterte User, die selbst mal einen Kurs erstellen wollen.

Mitterweile haben Sie aber nochmals das Team gewechselt? 

Genau. Seit Ende September 2023 bin ich der Publishing Manager des deutschen Teams. Das heißt, alle Kurse, die im deutschen Katalog veröffentlicht werden, wandern über meinen Schreibtisch. 

Wer ist denn noch alles im deutschen Team dabei? 

Wir sind im Moment vier Leute. Man spürt schon ein bisschen Start-up-Feeling innerhalb von Chessable. Einer der Mitarbeiter ist hauptsächlich für die Videos zuständig und fürs Briefing der Autoren, wenn es um die Aufnahme von Videos geht. Wir haben eine Übersetzerin bei uns im Team. Und dann gibt es noch einen Haupteditor, der die meisten Kurse importiert. Das ist die grundlegende Ordnung im Moment. Wir sind aber am Wachsen. Von daher wird erwogen, ob sich das Team nochmals vergrößern soll. 

Kann eigentlich jeder einen Kurs auf Chessable veröffentlichen? 

Im Prinzip ja.  Aufgrund unserer kleinen Teamgröße können wir das Importieren und Editieren von Kursen nicht für alle Autoren übernehmen, aber das ist auch keine Raketenwissenschaft und wir geben Hilfestellung, wo immer wir können. Gerade auch weil durch die Schachbooms viele Anfänger zum Schach gekommen sind, glauben wir, dass man kein Starspieler sein muss, um einen lehrreichen Schachkurs zu erstellen. Wir haben natürlich gewisse Standards. Gute Erklärungen sind wichtig, außerdem sollten bei Eröffnungskursen möglichst alle wichtigen Varianten abgedeckt sein und so weiter. Wenn jemand bereit ist, diese Standards zu erfüllen, dann steht dem nichts im Wege. Wer mich erreichen will, kann mir ganz einfach eine Mail schreiben an christoph.kuberczyk@chess.com. 

Haben Sie selbst auch schon Kurse erstellt? 

Ja, tatsächlich. Mein erster Kurs behandelt Grünfeld-Slawisch-Hybrid. Das ist quasi Slawisch kombiniert mit einem Königsfianchetto. Diese Eröffnung halte ich seit geraumer Zeit für total unterschätzt. Ende 2022 habe ich den deutschen Kurs herausgebracht, und dann im Januar 2023 den englischen. Und vor kurzem ist dann mein Schwarzrepertoire quasi komplettiert worden mit einem Taimanow-Kurs, also einer Sizilianisch-Variante gegen 1. e4. Viele Leute glauben, dass ich die Kurse während der Arbeitszeit erstellen kann, aber in Wirklichkeit habe ich das wie viele Autoren in meiner Freizeit gemacht. Leider Gottes besteht mein Job nicht darin, Schachkurse zu erstellen. Aber den ganzen Prozess selbst mehrmals durchlaufen zu haben, hilft sicherlich dabei, sich in unsere Autoren einzufühlen. 

Chessable hat auch einen Wettbewerb ausgeschrieben, der von Nationalspielerin Josefine Heinemann präsentiert wurde. Worum handelt es sich dabei? 

Genau. Das ist ein Thema, das mir sehr am Herzen liegt. Einmal im Jahr schreiben wir einen Wettbewerb aus, bei dem User ihre eigenen Kurse einreichen können. Am Ende werden die besten Kurse ausgezeichnet, der Siegerkurs wird von Josefine präsentiert und es gibt auch ordentlich Preisgeld zu gewinnen. Am Ende bekommt jeder Autor Feedback zu seinem Kurs, und wir versuchen möglichst viele der Einreichungen so weit zu verbessern, dass wir sie auf Chessable veröffentlichen können Bisher gab es das nur für englische Kurse, aber für den Wettbewerb 2023 haben wir unabhängige Wettbewerbe für Kurse in englischer, spanischer und deutscher Sprache ausgeschrieben. Der Gewinner dieses Jahr ist FM Martin Kreuzer mit einem Kurs namens “Killerzüge”. 

Werden Chessable-Kurse denn auch von Weltklassespielern gekauft und genutzt? 

Ja, ein  ganz bekanntes Beispiel dafür ist Abhimanyu Mishra, der jüngste Großmeister der Welt, der mit Weiß fast ausschließlich Sam Shanklands 1.d4-Repertoire gespielt hat. Sam Shankland hat irgendwann selbst mal die Anekdote erzählt, dass es für ihn ein Alptraum war, als er mit Schwarz gegen Mishra gelost wurde und auf einmal gegen sein eigenes Repertoire antreten musste. 

Lassen Sie uns doch allgemein über das Thema Verbesserung im Erwachsenenalter sprechen. Sie haben sich mit Mitte 20 von 2100 auf ungefähr 2350 Elo verbessert und den FM-Titel geholt. Wie haben Sie das geschafft? 

Ich glaube, allgemein werden heute mehr Möglichkeiten geboten, auch im Erwachsenenalter noch durchzustarten, als viele Spieler es wahrhaben wollen: Die starken Engines, natürlich auch irgendwo Chessable. Ich wusste, in welchen Aspekten meines Spiels ich mich verbessern muss und habe einfach diese Möglichkeiten genutzt. 

Gibt es heutzutage nicht zu viele Möglichkeiten? Das ist ja oft verwirrend.

Das kann man so sehen. Aber ich glaube, wir können uns sehr dankbar schätzen, in der heutigen Zeit zu leben. In zwanzig Jahren wird man wahrscheinlich über die heutigen Möglichkeiten lachen, aber im Moment sind wir schon sehr gut ausgestattet, um auch im Erwachsenenalter besser zu werden. 

Haben Sie sich mehr um Ihre Stärken oder um Ihre Schwächen gekümmert? 

Ich war auch als Trainer immer ein großer Verfechter davon, dass man an seinen Schwächen arbeitet. Jeder Spieler hat ein paar klare Gründe, warum er nicht weiterkommt. Ich habe mir damals schonungslos aufgeschrieben, was mein Spiel zurückgehalten hat, und zwar sowohl schachliche als auch nicht-schachliche Gründe. Zum Beispiel war ich immer ein Kandidat für Zeitnot und habe versucht, die Gründe dafür abzustellen. Aber selbst simple Dinge, wie mit ausreichend Schlaf und Ruhe ans Brett zu gehen, haben aus meiner Sicht einen großen Einfluss. 

Und schachliche Gründe? 

Ein fehlendes Eröffnungsrepertoire, aber sicherlich auch mangelndes Wissen über Standardbauernstrukturen oder Standardendspiele waren bei mir damals ein paar der größten Baustellen. Heutzutage sähe meine Liste anders aus. 

Vielen Dank für das Interview und weiterhin viel Erfolg mit Chessable. 

Danke für die Einladung! 


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