#195 | Schachgenies Teil 4 – Das berühmteste Remisangebot der Welt

Nach Paul Morphy (Teil 1), dem Duo Adolf Anderssen / Lionel Kieseretzky (Teil 2) und Paul Keres (Teil 3) kommt in der heutigen Folge ein weiteres Schachgenie zur Geltung.
Xenia Bayer erzählt die berühmte Geschichte des denkwürdigsten und lustigsten Remisangebotes aller Zeiten. Die Rede ist von einem Spieler, der maßgeblich dafür verantwortlich war, dass das Schachspiel in Russland so bedeutend wurde.

Episodenskript

Hallo liebe Zuhörer,
ich heiße Xenia Bayer, und das ist mein Podcast „Schach für Kinder“!

„Er lebte nur für Schach und durch Schach“

Er lernte Schach mit 16 Jahren. Ein eifriger Besucher des Cafés „Dominik“ in Sankt Petersburg, in dem seit 1876 die ersten russischen Schachturniere stattfanden, wurde innerhalb eines Jahres zu dem besten Schachspieler seines Landes.

Das erste internationale Schachturnier, an dem er teilnahm, fand 1881 in Berlin statt. Am Ende teilte er zusammen mit einem der stärksten Schachspieler Europas, dem Polen Szymon Winawer, den dritten und vierten Platz.

Acht Jahre später beim sechsten amerikanischen Schachkongress in New York teilte er den ersten Platz mit Max Weiss, dem Schachmeister aus Österreich-Ungarn.

Bei den Schachweltmeisterschaften 1889 und 1892 in Havanna (Kuba) spielte er mit einem berühmten Gegner: dem ersten offiziellen Schachweltmeister Wilhelm Steinitz. Bei dem 1. Treffen konnte Steinitz seinen Titel verteidigen. Bei dem 2. Treffen in der 23. Partie, der entscheidenden Partie um die WM, übersah der russische Schachmeister ein zweizügiges Matt, und Steinitz gewann wieder.

Tschigorin-Steinitz, Kuba 1992:

Tschigorin spielte hier in Gewinnstellung mit Weiß Ld6-c5 ?? und übersah das Matt nach Txh2 Kh1 Tg2+.
Der beste Zug wäre schlicht Txb7.

Zwischen diesen beiden WMs haben beide Kontrahenten zwei Fernschachpartien, die per Telegraf ausgetragen wurden, miteinander gespielt. Der Sieger beider Partien war das russische Talent.

1893 forderte der deutsche Schachmeister Siegbert Tarrasch, der innerhalb von zwei Jahren drei große internationale Turniere nacheinander gewann, ihn zu einem Kampf auf. Der Zweikampf fand in Sankt Petersburg statt.

Das russische Talent begann den Wettkampf unglücklich. Nach 6 Partien stand es 4:2 zu Gunsten von Tarrasch. Dann konnte der russische Meister seine Position verbessern, aber kurz vor dem Ende geriet er erneut ins Hintertreffen. Tarrasch gab bereits Interviews über seinen Sieg. Doch der Russe sammelte alle seine Kräfte und gewann drei aufeinanderfolgende Partien, um die Chancen auszugleichen. Der Stand war 8:8. Dann sicherte sich Tarrasch den 9. Sieg. Aber unser Protagonist gewann die letzte Partie, und der Wettkampf endete unentschieden.

Zu dem 2. Treffen zwischen ihm und Tarrasch gibt es eine Schachanekdote:
Während des Internationalen Turniers in Wien 1898 trafen der russische Schachmeister (weiss) und Siegbert Tarrasch (schwarz) aufeinander. Nach dem 37. Zug bot Weiß remis an bei einem Endspiel verschiedenfarbiger Läufer. Tarrasch lehnte das Remisangebot ab. Zur Überraschung von Tarrasch, nahm der russische Schachmeister seinen weißen Läufer in die Hand, entfernte ihn vom Brett und sagte: “Versuchen Sie einmal, gegen mich zu gewinnen!” Plötzlich verstand Tarrasch die Beschaffenheit der Stellung und stimmte einem Unentschieden sofort zu.

Michail Tschigorin

Tschigorin-Tarrasch, Wien 1898:

Tschigorin nahm hier seinen weißen Läufer vom Brett. Die Stellung ist danach immer noch Remis (selbst wenn Schwarz seinen Läufer gegen einen Bauern opfert)

Bei der „Schlacht der Giganten“ im Hastings-Turnier 1895 jubelte das ganze Russland über seine Siege gegen den ersten Preisträger, den Amerikaner Harry Nelson Pillsbury, gegen die deutschen Schachmeistern Emanuel Lasker und Siegbert Tarrasch, und bedauerte, dass ihm nur ein halber Punkt bis zum ersten Platz fehlte.

Georg Marco, der österreichische Schachmeister, erinnerte sich:

„Das Turnier begann am 5. August 1895. In der ersten Runde gewann Emmanuel Lasker bereits im 29. Zuge gegen mich. Er beeilte sich indes nicht, den Turniersaal zu verlassen. Seine Aufmerksamkeit galt der scharfen Auseinandersetzung zwischen dem russischen Schachmeister und Pillsbury. Nachdem Lasker sich davon überzeugt hatte, dass drei weiße Freibauern im vorliegenden Fall stärker waren als der gegnerische Turm und einen baldigen Sieg garantieren mussten, begab sich Lasker in den Nebenraum, wohl um eine andere Partie zu betrachten. Inzwischen rückte der Russe einen der Freibauern auf die 8. Reihe vor und stellte auf das Feld g8 einen umgedrehten Turm, was in der Sprache der Schachspieler eine Dame bedeutete, und eilte ins Nachbarzimmer, um sich eine entsprechende Originalfigur zu holen. Ihm entgegen kam Lasker mit drei weißen Damen in den Händen. Sie dem erstaunten Meister entgegenstreckend, fragte er mit ernster Miene: ,,Ich hoffe, sie werden Ihnen reichen!“

Das Wettkampfturnier in Sankt Petersburg am 13. Dezember 1895 wurde als eine Fortsetzung oder genauer gesagt als Finale des Turniers in Hastings angesehen, da an diesem Turnier nur die Preisträger von Hastings teilnahmen: Lasker, Pillsbury, Steinitz und der russische Schachmeister. Das Hauptziel bestand darin, den tatsächlich stärksten Schachspieler der Welt zu ermitteln. Obwohl das russische Talent während der zweiten Hälfte des Turniers hervorragend spielte, belegte er am Ende nur den 4. Platz.

Er war der Gründer der ersten Schachclubs in Sankt Petersburg und der Herausgeber der ersten Schach-Zeitschriften „Schachmatny Listok“ und „Schachmatny Vestnik“ in Russland.


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„Das Schachspiel,“ schrieb er, „ist weitaus vielfältiger, als man es auf der Grundlage der bestehenden Theorie darstellen kann, die dazu neigt, es in enge, festgelegte Formen zu zwängen.“

Seine Tochter erinnerte sich: „Schachkombinationen kamen ihm oft plötzlich in den Sinn. In solchen Fällen konnte er seine Gäste am Esstisch zurücklassen und sich in sein Büro zurückziehen, um auf dem Schachbrett neue Figurenstellungen festzuhalten. Er musste sich oft bei den Gästen entschuldigen, aber da die meisten von ihnen Schachspieler und Verehrer des Vaters waren, wurde ihm dies nicht übelgenommen.“

Im Damengambit, in der Spanischen Partie oder in der Französischen Verteidigung gibt es nach ihm benannte Varianten der Eröffnungen.

Die Tochter weiter: „Der Vater führte eine umfangreiche Korrespondenz über Schachangelegenheiten in Russland und im Ausland. Wir sahen ihn tagelang über seinem Schreibtisch gebeugt, um einen Stapel erhaltener Korrespondenz zu beantworten, und nachts über einem Schachbrett, das an sein Bett gestellt war. Er lebte nur für Schach und durch Schach.“

(Olga M. Kusakova-Tschigorina, „Mein Vater, Michhail Tschigorin, zu seinem 50. Todestag (1908-1958)“)

Sein Name war in ganz Russland weithin bekannt. Wenn irgendwo ein junges, vielversprechendes Schachtalent auftauchte, sagte man „der neue …“ und nannten seinen Namen.

„Es gab einmal einen Vorfall – der Briefträger brachte einen Brief mit der Adresse auf dem Umschlag: „Russland – und nur seinen Namen“ – und die Adresse war ausreichend!“ (Olga M. Kusakova-Tschigorina, „Mein Vater, Michhail Tschigorin, zu seinem 50. Todestag (1908-1958)“)

Alexander Aljechin, der 4. Schachweltmeister schrieb: „Sein Talent ist enorm! Er ist möglicherweise ein wahres Genie! Die Tiefe seiner Ideen ist manchmal unverständlich für Sterbliche.“

Michail Botwinnik, der 6. Schachweltmeister sagte: „Er war seiner Zeit voraus!“

Ausländische Zeitungen schrieben damals:

  • „Wiener Schachzeitung“: „Nur die Namen der größten Meister der Epoche Steinitz, Pillsbury, Lasker können neben seinem Namen stehen.“
  • „Deutsche Schachzeitung“: „Er ist ein wahres Genie. Sein Erbe ist groß.“
  • „The British Chess Magazine“: „In der Geschichte des Schachs haben nur Wenige solche bedeutenden Spuren hinterlassen wie er.“

Der Sohn einer Bäuerin und eines Arbeiters einer Pulverfabrik, der mit 9 Jahren seine beiden Eltern verlor und in einem Waisenhaus aufgewachsen war, wurde zu einem der besten Schachspieler der Welt.

Das Schachgenie des 19.Jahrhunderts ist Michail Tschigorin.

Bis zum nächsten Mal!
Eure Xenia Bayer


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